© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/13 / 15. März 2013

In Gesellschaft des Mißtrauens
Der Politikwissenschaftler Franz Walter ist der modernen Protestkultur und dem Milieu der „Wutbürger“ auf den Grund gegangen
Ansgar Lange

Alle Welt redet vom „Wutbürger“. Zumeist richtet dieser seinen Zorn gegen Infrastrukturmaßnahmen oder Stadtentwicklungsprojekte. Man möchte den modernisierten Bahnhof, das neue Gewerbegebiet oder einen weiteren Flughafen nicht vor der eigenen Haustür haben. Gegen die schleichende Entmündigung der Bürger durch den Steuer- und Sozialabgabenstaat, den grassierenden Kita-„Wahn“ oder die „Demokratieabgabe“ für den öffentlich-rechtlichen Dudelfunk formiert sich hingegen nur schwer ein greifbarer Protest.

Warum gehen Bürger auf die Barrikaden? Dieser Frage ist der Göttinger Politikwissenschaftler Franz Walter mit einem Team junger Wissenschaftler seines Instituts für Demokratieforschung auf den Grund gegangen. Finanziert wurde das Ganze von BP („British Petrol“). Ein Schelm, wer hier an eine Art modernen Ablaßhandel denkt, denn das Unternehmen war und ist ja selbst Ziel von Protesten. Doch für das eigene Image ist es sicher gut, wenn man einen Beitrag zur Erforschung von Protestgruppen leistet und munter von der „Zivilgesellschaft“ faselt, der man Stoff für Diskussionen liefern will.

Franz Walter ist ein Linker mit T-Shirt und Zottelmähne, dem man eine flotte Schreibe und essayistische Begabung nicht absprechen kann. Außerhalb des akademischen Elfenbeinturms wird es wahrscheinlich nur sehr wenige Menschen geben, die 350 Seiten über Bürgerproteste lesen, ob sie nun die Ener-giewende, Atom- und Bildungspolitik, die Occupy- oder auch Anti-Euro-Bewegung zum Inhalt haben. Feinschmecker delektieren sich vielleicht sogar an dem Beitrag „Wie erforscht man Protest? Forschungsdesign und Methodik“. Doch wem die eigene Lebenszeit dafür zu schade ist, der kann sich mit der gewohnt pointiert geschriebenen, rund vierzigseitigen Zusammenfassung aus der Feder Walters begnügen. Ob die Ergebnisse der Studie, die geführten Interviews mit Bürgern, die ihre Wut gegen Stromtrassen, Flugzeuglandebahnen oder Windräder richten, repräsentativ sind, mag dahingestellt bleiben. Walters knackige Thesen sind aber allemal eine Diskussion wert.

Laut George Bernard Shaw sind alte Männer deshalb gefährlich, weil „ihnen die Zukunft egal“ ist. Dies trifft offenbar auch auf die deutsche Protestbewegung zu, die vornehmlich im Milieu der Kinderlosen stattfindet. Bürger, die dauernd in Wut sind, haben viel Tagesfreizeit. So finden sich in der Riege der Erregten besonders viele Hausmänner, Teilzeitangestellte, Freiberufler, Schüler, Pastoren und Lehrer, aber auch – siehe Shaw – eine Vielzahl an Vorruheständlern, Pensionären und Rentnern. „Bezeichnenderweise aber setzen sich die ironischen Betrachter des Politischen ganz überwiegend zusammen aus Männern, allein lebend, ohne Kinder, mit beruflich ungewöhnlich großen Freiflächen“, so Walter bündig.

Früher engagierten sich auch viele Arbeiter zum Beispiel im Rahmen der sozialistischen Arbeiterbewegung oder des Sozialkatholizismus. Heutzutage sind Wutbürger meist studierte Leute, oft Ingenieure oder andere Angehörige der technischen Intelligenz. Arbeiter und kleine Angestellte sind kaum unter den Protestierenden. Vielleicht stehen diese ja auch an der Werkbank, schwitzen im Büro oder leben gar von Transferleistungen, während Beamte und Rentner auf die Barrikaden gehen. Die Kluft zur nichtakademischen Schicht wächst also. Helmut Schelsky würde sich im Grabe herumdrehen, wenn er läse, daß mittlerweile der Diplomingenieur „einen zentralen Typus des aktuellen Bürgerprotestes bildet“. Vielleicht würde er seine Studie heute „Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Ingenieure“ nennen. Ferner, so Walter, ist der Protest überwiegend männlich, weiß und konfessionslos.

Walter ist dieses ganze Protestgehabe offenkundig nicht ganz geheuer. Er konstatiert eine „Mißtrauensgesellschaft“ mit Affekten gegen Lobbyisten, Medien und Parteipolitiker. In der plebiszitären Grundsympathie der Wutbürger lauere eine autoritäre Versuchung. Der Unmut sei oft ziellos und schreie nach energischen Taten, stringenten Masterplänen und einem „einschlägig qualifizierten Führungspersonal“. Letztlich konstatiert Walter, daß „Mißtrauensgesellschaften Seismographen für Deformationen“ seien. Und wenn es gutgehe, bildeten sie Ausgangspunkte für Gegenbewegungen, welche Unzufriedenheit in neue Ideen und Entwürfe transferieren.

Was schließlich kommt, weiß auch Walter nicht. Neben den Wutbürgern wären sicher auch desillusionierte Angehörige der schweigenden Mehrheit eine Studie wert, die zum Beispiel der kartell-artigen Politik fast aller Parteien beim Thema Euro zutiefst mißtrauen, aber jede Hoffnung aufgegeben haben, daß ihr Wort, ihre Stimme oder ihr Protest „bei denen da oben“ auch nur einen Funken Wirkung erzielen könnten.

Franz Walter (Hrsg.): Die neue Macht der Bürger. Was motiviert die Protestbewegungen? Rowohlt Verlag, Reinbek 2013, broschiert, 352 Seiten, 16,95 Euro

Foto: Demonstration 2012 gegen den Stuttgarter Bahnhofsneubau: Bürger, die dauernd in Wut sind und viel Tagesfreizeit haben

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