© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/13 / 22. März 2013

Mit Gleichgültigkeit und Verachtung begleitet
Der nationalsozialistische Judenboykott von 1933 verfing bei vielen Deutschen nicht im von Goebbels erhofften Maße
Konrad Löw

Am 30. Januar 2013 äußerte Inge Deutschkron, eine Überlebende der NS-Judenverfolgung, in der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus vor dem Deutschen Bundestag: „Das deutsche Volk jener ersten Nachkriegsjahre wurde beschützt von seinem ersten Kanzler, der im Parlament in einer Regierungserklärung behauptet hatte, die Mehrheit der Deutschen wären Gegner der Verbrechen an den Juden gewesen. Viele von ihnen hätten sogar den Juden geholfen, ihren Mördern zu entkommen. Ach wäre das doch die Wahrheit gewesen!“ Das Protokoll vermerkt am Ende ihrer Ansprache: „Anhaltender Beifall – Die Anwesenden erheben sich.“

Adenauer hat sich tatsächlich am 27. September 1953 sinngemäß so geäußert. Hat er gelogen oder nicht gewußt, was er sagte? Das Protokoll vermerkte damals: „Lebhafter Beifall im ganzen Haus außer bei der KPD und auf der äußersten Rechten.“

Offenbar verwerfen alle Parteien im Bundestag das, was sie vor sechzig Jahren beklatscht haben. Nirgendwo wurde der Dissens zwischen den beiden Zeitzeugen auch nur zum Gegenstand einer Debatte gemacht. Wissen wir es heute besser, was 1933 bis 1945 geschah, als die Abgeordneten des Jahres 1953, die alle Zeitzeugen waren? Die Frage gewinnt noch an Brisanz, wenn wir berücksichtigen, daß Adenauers Text mit Repräsentanten des Judentums abgestimmt worden war.

Der achtzigste Jahrestag des Judenboykotts soll dazu dienen, das, was damals geschah, unter dem Blickwinkel: „Wie verhielten sich die nichtjüdischen Deutschen beim Judenboykott?“, in der gebotenen Kürze darzustellen. Am 28. März 1933 kündigte die Partei des neuen Reichskanzlers Adolf Hitler die erste Aktion gegen die Juden in Deutschland an. Im Duktus der NSDAP hieß dieser „Gegenboykott“: Am 1. April sollten reichsweit die jüdischen Geschäfte, Anwälte und Ärzte gemieden werden. „Kauft nicht beim Juden!“ Als Begründung wurde auf den jüdischen Boykott deutscher Waren im Ausland hingewiesen. Der Boykott in Deutschland war rechtlich betrachtet indiskutabel. Doch daß es sich um eine Gegenmaßnahme handelte, wird nicht zuletzt durch einen oft zitierten Zeitungsartikel aus England genährt. Dort hatte der Daily Express vom 24. März 1933 gemeldet: „Judea declares war on Germany“ und „Boykott of german goods“ und dergleichen mehr.

Jüdische Vereinigungen in Deutschland wehrten sich mit aller Entschiedenheit gegen diese „Hilfe“ aus dem Ausland. Der Haupttitel der Jüdischen Rundschau lautete am 28. März: „Gegen Greuelpropaganda“. Über mehrere Spalten hinweg wird der reichsdeutschen Abwehr beigepflichtet. Und dann: „Die deutschen Juden (…) haben doppelt zu leiden: als Deutsche und als Juden.“ Es ist anzunehmen, daß wegen des Boykotts der Gegenboykott in den Augen vieler eine gewisse Plausibilität erlangte, hatten doch viele Deutsche tatsächlich unter den Maßnahmen des Auslandes zu leiden.

Über die Gründe, warum deutsche Ware im Ausland keinen Absatz finden sollte, erfuhren die Deutschen, die auf die inländischen, inzwischen gleichgeschalteten Medien angewiesen waren, natürlich nichts. NS-Rabauken und ähnliches Gesindel hatte sich schwerer Verbrechen an jüdischen Mitbürgern schuldig gemacht, worüber im Reich nicht berichtet werden durfte. Im Ausland aber wurden die Verbrechen ins schier Maßlose gesteigert, worüber die Jüdische Rundschau mit bewegten Worten sehr anschaulich klagte.

Wie verhielt sich das unzulänglich informierte Volk? Die Antwort ist nicht schwierig, gibt es doch eine erstaunliche Fülle einschlägiger Berichte unverdächtiger Zeugen, die im Kern übereinstimmen. Hier drei Verlautbarungen von besonderem Gewicht:

Der Zionist und Journalist Robert Weltsch hielt es am 1. April 1933 nicht hinter seinem Schreibtisch in der Reichshauptstadt aus. Mit einem Taxi fuhr er ostwärts vom Kurfürstendamm zum Zentrum Berlins und weiter dorthin, wo die meisten jüdischen Geschäfte lagen. „Als überaus tröstlich empfand er die Gleichgültigkeit, wenn nicht sogar Verachtung, die viele Berliner gegenüber dieser amtlich autorisierten Drangsalierung der Juden Deutschlands an den Tag legten.“

Menschen aus „allen Teilen des Reiches“ wurden von der Jüdischen Rundschau belobigt. Am 13. April 1933 stand dort auf Seite eins zu lesen: „Neben all dem Bitteren, das die deutschen Juden als Ganzes und einzelne deutsche Juden (...) in diesen Tagen durchmachen mußten, muß gerechterweise auch eine Erfahrung verzeichnet werden, die vieles aufzuwiegen vermochte. Von einer großen Zahl von Freunden und Lesern in Berlin und in allen Teilen des Reiches erhalten wir Berichte, aus denen hervorgeht, daß ein großer Teil der christlichen deutschen Bevölkerung trotz der beispiellosen Vehemenz der antijüdischen Propaganda (...) ein Gefühl für die wirkliche Situation bewahrt hat. Sowohl am Tage des Boykotts als auch nachher haben viele Juden von ihren Mitbürgern Zeichen der Teilnahme und des Respekts erhalten. (...) Es handelt sich dabei keineswegs um parteimäßig abgegrenzte Kreise, sondern ausdrücklich wird hervorgehoben, daß (...) auch von Mitgliedern der nationalsozialistischen Partei solche Kundgebungen zu verzeichnen sind.“

Auch die 1932 in München geborene Charlotte Knobloch, Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland von 2006 bis 2010, schreibt in ihrer Autobiographie, von ihrem Vater unterwiesen, mit Blick auf den 1. April 1933: „Die Aktion wurde allerdings abgebrochen, weil die Machthaber enttäuscht feststellen mußten, daß die Bevölkerung ihrem Aufruf , die Juden zu ächten, nicht im gewünschten Umfang nachgekommen war.“ Dann fährt sie fort: „Noch konnten die meisten zwischen Recht und Unrecht unterscheiden.“ Den Nachweis für die Richtigkeit, daß später das Unrechtsbewußtsein schwand, bleibt sie schuldig.

 

Prof. Dr. Konrad Löw lehrte Politikwissenschaft an der Universität Bayreuth. Zuletzt widmete er sich dem Thema Judenverfolgung und Kollektivschuld publizistisch im Jahr 2010 mit dem im Münchner Olzog-Verlag erschienenen Buch „Deutsche Schuld 1933–1945? Die ignorierten Antworten der Zeitzeugen“.

Foto: Zwei Frauen betrachten Boykottaufruf in Schaufenster, Berlin im April 1933: Die meisten unterscheiden zwischen Recht und Unrecht

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