© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/13 / 22. März 2013

Der Flaneur
Liebe durchs Fenster
Paul Leonhard

Sie scheint nicht gut drauf zu sein. Ich habe es gleich gesehen, im Vorbeilaufen aus den Augenwinkeln. Und ich bin extra noch einmal zurückgekommen. Nein, das ist nicht schön, einfach nicht schön. Und sie schmollt. Trotzig verzieht sie ihre Lippen. Da kann ich nur mit dem Kopf schütteln.

Aber irgendwie verstehe ich sie ja. Schließlich kenne ich sie schon seit Jahren. Ich habe sie oft bewundert. Stets trug sie die schicksten Klamotten, das Neueste und Modischste der Saison. Und das zu allen Jahreszeiten. Immer sah sie verführerisch aus, mitunter richtig sexy. Dazu ihr dunkler Teint. Eine dunkelhäutige Schönheit im blassen, kalten Deutschland.

Aber jetzt sieht sie gar nicht mehr verführerisch aus. Dabei soll sie doch gerade so wirken. Ihre Auftraggeber wollen das so. Wie kann man nur so danebenliegen? Dabei ist es immer noch das gleiche vertraute Gesicht, die großen Augen, die schlanke Gestalt.

Einmal habe ich sie sogar für ein paar Stunden nackt gesehen. Nie aber in diesem Zustand wie jetzt. Natürlich kann sie nichts dafür. Sie sucht sich die Klamotten ja nicht aus. Aber eine Pappschachtel als Kleid? Und dazu diese Aufschrift. Soll ich sie kaufen? Das würde doch zu weit gehen. Es reicht mir völlig, sie gelegentlich anzusehen, bewundernd vor ihr stehenzubleiben. Pullover, Hose, T-Shirt zu betrachten, seltener auch ihre Dessous. Und einen Blick auf die meist moderaten Preisschilder zu werfen.

Jetzt fehlen diese. Und sie ist bis auf eine knallrote Pappe unbekleidet. Auf dieser steht in weißer Schrift „sale“. Sie, im Ausverkauf, im Sonderangebot. Es schmerzt. Doch sie muß damit klarkommen – und auch ich.

Gestern habe ich mich aufgerafft. Wollte mit ihrem Besitzer ein Machtwort reden. Aber die mußten das geahnt haben. Ihr Fenster war mit weißen Leinen abgedeckt, darauf stand, mitten in der deutschen Provinz, der englische Satz „New look coming soon“. Hoffnung also. Natürlich lugte ich neugierig durch einen Spalt. Und da stand sie wie früher, selbstbewußt, modisch bekleidet und einfach unnahbar.

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