© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/13 / 29. März 2013

„Griff zum Giftbecher“
Türkei: Öcalans Aufruf zur Waffenruhe elektrisiert die Kurden und setzt Premier Erdoğan weiter unter Druck
Günther Deschner

Eine solche Veranstaltung – 500.000 Menschen und ein Meer von kurdischen Fahnen zur Feier des kurdischen Neujahrsfestes Newroz hatte die Millionenstadt Diyarbakir noch nicht gesehen. „Amed“, wie die Kurden ihre „Hauptstadt“ im Kurdengebiet der Südosttürkei nennen, glänzte am 21. März in der Frühlingssonne. Und doch lag auch politische Hochspannung über der Metropole: Tausende hielten Poster und Fahnen mit dem Bild des kurdischen Rebellenchefs Abdullah Öcalan in die Höhe und feierten den Gründer der „Kurdischen Arbeiterpartei“ PKK.

Und dann kam es tatsächlich zu der seit Wochen erwarteten Sensation: Spitzenpolitiker der im türkischen Parlament vertretenen Pro-Kurden-Partei „Für Frieden und Demokratie“ (BDP), die vergangene Woche den zu lebenslanger Haft verurteilten PKK-Gründer auf der Gefängnisinsel Imrali besucht hatten, verlasen dessen vorab angekündigten „Friedensplan“ – auf kurdisch und danach auch auf türkisch. Geht es nach Öcalan, sollen die rund 1.200 PKK-Kämpfer ab sofort eine Waffenruhe einhalten, und bis zum 15. August sollen sie aus der Türkei abziehen – wohl in ihre bisherigen Ruheräume in den Kandil-Bergen im kurdischen Nordirak.

Die PKK hatte in der vergangenen Woche im Nordirak bereits acht verschleppte türkische Beamte freigelassen – eine vertrauensbildende Maßnahme, die auch zeigen soll, daß der 63jährige PKK-Führer trotz seiner langen Haft in der Kurdenbewegung noch genug zu sagen hat. Eine „neue Ära beginnt“, betonte Öcalan. Nach nunmehr fast drei Jahrzehnten des bewaffneten Kampfes, in dem „zuviel Blut“ geflossen sei, müsse wieder „die Politik in den Vordergrund rücken“. „Apo“ formulierte keine konkreten Forderungen an die Türkei, verlangte aber ein Ende der Diskriminierung der Kurden. Das war an das türkische Parlament gerichtet, das derzeit an einer neuen Verfassung arbeitet.

Öcalan operiert mit seinem „Friedensplan“ nicht im luftleeren Raum. Seit drei Monaten hat es im Gefängnis Sondierungen gegeben, die von türkischer Seite von Mitarbeitern des Inlandsgeheimdiensts MIT geführt, aber doch auch von Regierungspolitikern begleitet wurden. Regierungschef Erdoğan hat die ausgestreckte Hand ergriffen. Das sei zwar für ihn „wie der Griff zum Giftbecher“ aber es müsse eben sein – „im Interesse der Türkei“. Kein Wunder, daß er der PKK bereits „freies Geleit“ beim Abzug versprochen hat. In einem späteren Schritt, so wird erwartet, könnte Ankara dann eine Amnestie anbieten.

Immer wieder in den letzten Jahren schien Erdoğan den Konflikt selbst eindämmen oder gar lösen zu wollen. Das ist wohl dem Umstand geschuldet, daß einerseits die Meinung in der EU, in den USA und in der benachbarten Autonomen Region Kurdistan des Irak (für die Türkei wichtiger Wirtschaftspartner) das Verhalten Ankaras gegenüber den Kurden kritisch gesehen wird – und daß auch in der Türkei selbst der Wunsch nach einem Ausgleich stärker geworden ist.

Schon mehrmals hatte es in der Vergangenheit erfolglose Friedensinitiativen gegeben. Doch diesmal haben offenbar selbst mutmaßliche Torpedierungsversuche wie die Ermordung von drei kurdischen Aktivistinnen in Paris im Januar die Verhandlungen nicht platzen lassen.

Auf beiden Seiten hat sich vieles gewandelt. Die PKK fordert schon lange nicht mehr unbedingt einen unabhängigen kurdischen Staat, besteht aber auf einem größeren Maß an Selbstverwaltung und kulturellen Rechten.

Einige PKK-Forderungen hat Ankara bereits erfüllt. So darf Kurdisch künftig als Wahlfach an Schule und Universität unterrichtet werden. Seit Januar ist auch die kurdische Sprache vor Gericht zugelassen. Erdoğan ist auch bereit, die Antiterrorgesetzgebung zu reformieren, wegen der Tausende Kurden, die, nur weil sie an Demonstrationen teilgenommen haben, in Haft sind. Hinzu kommen viele kurdische Kommunalpolitiker, die ohne Verurteilung im Gefängnis sitzen und jetzt freigelassen werden sollen. Auch die in der Verfassung verankerte Diskriminierung der Kurden will Erdoğan abschaffen. Dies sind exakt Öcalans Bedingungen dafür, daß aus dem angekündigten Waffenstillstand ein dauerhafter Friede wird.

Erdoğan hat großes Interesse daran, den Konflikt zu beenden. Er ist die strategische Achillesferse der Türkei, denn die Dauerkrise steht den neoosmanischen Regionalmachtambitionen im Weg. Der Machtpolitiker, den man nicht umsonst den „Möchtegern-Sultan“ nennt, kann auch ein persönliches Interesse haben, als „Friedensstifter“ in die Geschichte einzugehen: Nach drei Amtszeiten als Premier darf er nicht mehr kandidieren. Stattdessen will er Präsident werden, wenn dieser 2014 erstmals direkt gewählt wird. Die Kurden im Parlament, so wird spekuliert, könnten der Regierungspartei zur Mehrheit für die Einführung einer Präsidialverfassung verhelfen, die Erdoğan für sich will.

Foto: 500.000 Kurden feiern in Diyarbakir das Newroz-Fest und PKK-Chef Öcalan: „Das ist nicht das Ende, das ist der Beginn einer neuen Ära!“

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