© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/13 / 29. März 2013

Die Kritik endete geräuschlos
Avantgarden und ihre Gegner: Kritiker moderner Kunst von Nietzsche bis Arnold Gehlen / Degenerationsbefunde und Entlastungsfunktion als Beschreibungskonzepte / Zweiter Teil der JF-Serie
Felix Dirsch

Da die fortschrittliche Grundhaltung, die der sehr heterogene künstlerische Avantgardismus par excellence verkörpert, überlieferte Bindungen maßgeblich schwächt, darf die Wucht der Ablehnung nicht überraschen. Am Anfang der Moderne-Schelte steht Friedrich Nietzsches und Julius Langbehns einflußreiche Kulturkritik.

Obwohl Nietzsche selten konkrete Kritik an den Werken der zeitgenössischen Kunst übt und inhaltlich wenig präzis argumentiert, dient er als Stichwortgeber. „Entsinnlichung der höheren Kunst“ und der eigenartige Dualismus von eingeweihtem Vortrupp einerseits und unwissender Masse andererseits sind Topoi, auf die immer wieder zurückgegriffen wird.

Langbehn, sieben Jahre jünger als der 1844 geborene Nietzsche, Kulturpessimist, glühender Rembrandtverehrer, mitunter antijüdisch eingestellt, empfiehlt der deutschen Bildung, vom Intellektualistischen und Städtischen zum Schlichten und Konkreten „hinabzugehen“. „Rembrandt als Erzieher“, Langbehns Best- und Longseller, wird häufig neu aufgelegt. Der Verfasser des Vorwortes der Auflage von 1943, Kellermann, bezeichnet den „Rembrandtdeutschen“ als Konservativen und Monarchisten. Er versucht den 1907 verstorbenen Schriftsteller überraschenderweise nicht als Pränationalsozialisten auszugeben, hebt aber mit Recht dessen Verwurzelung in heimatlicher Erde und in bäuerlicher Kultur hervor.

Max Nordaus Physiognomie des eigenen Zeitalters wäre heute längst vergessen, hätte sie nicht in begriffsprägender Hinsicht Bedeutung erhalten. Der Titel des zweibändigen Werkes „Entartung“ (1892) wird später von den Nationalsozialisten mißbraucht. Nordau will die Zeitstimmung des Fin de siècle mit Beschreibungen wie Dekadenz und „Mysticismus“ erfassen. Auf die heute noch populäre Annahme einer angeblichen Wesensverwandtschaft von Genialität und Wahnsinn weist der Arzt und überzeugte Zionist früh hin.

Gestützt auf die Psychiatrie des ausgehenden Jahrhunderts, entwickelt er im ersten Band ein weitreichendes Konzept einer vermeintlich epochenspezifischen Degeneration, die im kulturellen Bereich besonders offenkundig sei. Der Folgeband wendet diese Krankheitsdiagnose auf einige bekannte zeitgenössische Künstler (Ibsen, Wagner, Nietzsche und so fort) an. Versucht Nordau noch, den Forschungsstand seiner Zeit zu beachten, mutieren seine Befunde des medizinisch-geistigen Verfalls zur Steilvorlage für das nationalsozialistische Vernichtungswerk.

Über drei Jahrzehnte nach Nordaus Ausführungen macht sich der spanische Kulturkritiker José Ortega y Gasset vom soziologischen Standpunkt aus Gedanken über die „Vertreibung des Menschen aus der Kunst“. Wie andere konservative Kulturkritiker moniert er eine Kluft zwischen den wenigen, die die betreffenden Werke verstehen, und jenen vielen, die sie nicht begreifen. Kunst hat ihm zufolge die Aufgabe, Menschen zu erwärmen und sie in ihren Bann zu ziehen. Bloßes l’art pour l’art genügt nicht. Gerade der „Sitz im Leben“ entscheidet nach Ortega y Gasset über die Qualität der Ästhetik und ihre Hintergründe. Die neuen Stile zeigen seiner Ansicht nach folgende charakteristische Merkmale: Inhalte des Humanen sind kaum zu erkennen; die Befreiung von lebendigen Formen ist evident; Kunst ist nur Kunst und Spiel; die traditionelle Vielfalt ist häufig durch die Reinheit des Stils reduziert, wie besonders im Bereich der Architektur zu erkennen; Transzendenz kommt kaum zum Ausdruck.

Weit elaborierter als Ortega y Gassets Stellungnahme ist Hans Sedlmayrs „Wertrelief“ der eigenen Epoche. Der Kunsthistoriker versteht die Symptome und Symbole der Kunst und deren Veränderungen als Spiegel des kulturgeschichtlichen Wandels insgesamt. Der Titel seiner Abhandlung „Verlust der Mitte“ (1948) prägt bald die Signatur des Zeitgeistes und wird öfters schlagwortartig rezipiert.

Vor dem Hintergrund einer kurzzeitigen Renaissance des europäischen katholischen Konservatismus in den 1950er Jahren, der von so exzeptionellen Gestalten wie Romano Guardini, Christopher Dawson und Thomas S. Eliot repräsentiert wird, liegt Sedlmayrs Aufklärungskritik im Trend. Für die Zeit ab 1760 stellt er einen Prozeß der Ablösung von Kirche und Palast beziehungsweise Schloß als führende Aufgaben der Kunst durch Landschaftsgarten, Krankenhaus, Bahnhofs- und Industriebauten und so weiter fest. Die Deszendenzoptik ist mit Händen zu greifen. Der Wiener und Münchner Ordinarius konstatiert nicht eine mehr oder weniger zufällige Abfolge verschiedener kunstgeschichtlicher Zentralgestirne, sondern sieht darin Chiffren der Ersetzung des absoluten, christlichen Gottes durch diverse innerweltliche Götter.

Seine umfangreiche Synopse der unterschiedlichen Bereiche der Kunst ergibt ein eindeutiges Ergebnis: den „Verlust der Mitte“, den er mit Stichworten beschreibt wie „fort von der Mitte“, „fort vom Humanismus“, „fort vom Menschen“, „Verlust des Menschenbildes“, „gegen den Menschen und seine Welt“, „hinab zum Anorganischen“, „hinab zum Chaotischen“. Ein ausführlicher Bildteil führt plastisch Beispiele stilreiner, letztlich verödeter Architektur vor, dazu erschreckende Sujets aus dem reichen Fundus der Malerei.

Sedlmayr legt nicht nur zentrale Seismographen der Krise der Moderne frei, vor allem deren Zerstörung eines verbindlichen Seins- und Wertekosmos; vielmehr streitet er auch für sein wichtigstes Ziel: nämlich „das ewige Bild des Menschen festzuhalten“. Gerade die „kultisch hieratische Verankerung der Kunst“ (Harald Seubert) macht diesen Ansatz nicht nur für die Situation kurz nach 1945 fruchtbar.

Auf der Linie Sedlmayrs liegt auch Wilhelm Hausenstein. Der Publizist und spätere Diplomat sowie Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste veröffentlicht 1949 seine Schrift „Was bedeutet die moderne Kunst“. Er plädiert gegen die Neuerer dafür, die Kunst als eine „Äußerung der Substanz“ zu begreifen und nicht zuerst als formalistische Experimente, die aus „lediglich innerkünstlerischer Empfindung“ resultierten. Weiterhin fordert er, die „ersatzhafte Metaphysik“ zu verbannen, die der modernen Kunst zugrunde liege. Das Heil der Gegenwartskunst hänge von „christlicher Erneuerung“ ab. Der Appell des Autors ist eindeutig.

Arnold Gehlen darf als der vielleicht letzte bedeutende konservative Gelehrte gelten, der sich mit moderner Kunst im großen Stil auseinandersetzt. Der „Vater des technokratischen Konservatismus“ würdigt 1960 in seiner Untersuchung „Zeit-Bilder“ die Tendenzen der ungegenständlichen Kunst wohlwollender als Sedlmayr; denn diese seien zu unbestimmt, zu vielfältig und darüber hinaus zu sehr im „Gewoge des Subjektiven schwimmend“, um „gegnerschaftsfähig“ zu sein. Die gegenwärtige Kunst sei mittlerweile ins Zeitalter der „Kristallisation“ eingetreten. In dieser Situation seien große, durchschlagende Wandlungsprozesse unmöglich geworden, wie sie noch um die Jahrhundertwende fast den Normalfall darstellten. Auch Kunst komme mittlerweile die Funktion der Entlastung zu. Gehlens Soziologie der modernen Malerei hinterläßt den Eindruck, Bilder seien stets in der „Reichweite der Begabung unserer Herzen“; daher sei die Zeit der Agitation gegen die Moderne endgültig vorbei.

Im nachhinein kann man ein wenig über den Bogen der Kulturkritik verwundert sein. Sie beginnt im späten 19. Jahrhundert fulminant mit dem Entsinnlichungs- sowie Degenerationsvorwurf und endet, mit dem Eintritt der Kunst ins postmoderne Stadium, relativ geräuschlos. Wo Kunst einst einen neuen Morgen am Horizont vorwegnahm, ist es bald nach der Mitte des Jahrhunderts nur noch die entlastend-unterhaltende Funktion für die Gesellschaft, die bleibt.

Den dritten und letzten Teil dieser Serie lesen Sie in der nächsten JF-Ausgabe 15/12 am 5. April.

 

Hans Seldmayr

Der Wiener Kunsthistoriker Hans Sedlmayr (1896–1984) zählt zu den bekanntesten konservativen Kulturkritikern der Nachkriegszeit. Sein erstmals 1948 erschienenes Buch „Verlust der Mitte“ ist in 11. Auflage (Otto Müller Verlag, gebunden, 264 Seiten, 64 Abbildungen, 29 Euro) noch immer lieferbar.

Foto: Café Griensteidl in Wien, Gemälde von Reinhold Völkel, 1896: Das Kaffeehaus war Ende des 19. Jahrhunderts ein bekannter Künstlertreffpunkt. Geprägt wurde diese Zeit von einem Lebensgefühl zwischen Euphorie und Depression. Die kulturelle Bewegung des Fin de siècle reichte bis 1914.

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