© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/13 / 29. März 2013

Umverteilung
Die grundlose Solidarität
Eberhard Hamer

Bundespräsident Joachim Gauck verlangt in vielen Reden immer mehr Solidarität für die angeblich Armen unserer Gesellschaft, für die Immigranten, für Europa und so weiter – aber er läßt unbestimmt, von wem er die Solidarität nun wirklich abfordert.

Betrachtet man Leistungsträger und Leistungsnehmer in unserem Volk, so kann er mit seiner Solidaritätsforderung kaum an die zwei Drittel Leistungsnehmer unserer Gesellschaft appellieren, denn diese bekommen ja Solidarleistungen, sie sind die Begünstigten. Das eine Drittel unserer Bevölkerung – der Mittelstand – ist nicht nur Zahler für die Subventionen der Oberschicht und die Sozialleistungen der Unterschicht, sondern wird durch Steuern und Sozialabgaben für diese Solidarleistungen so belastet, daß sie mit ihrem Vermögen auszuwandern und ihre offiziellen Einkommen durch Schwarzarbeit zu verbessern versuchen. Wenn ein Volk nur zu einem Drittel aus Zahlern, zu zwei Dritteln aber aus Transferleistungsempfängern besteht, ist der Appell an die Zahler zu mehr Solidarität eigentlich eine Unverschämtheit, wenn der Redner die Fakten kennt, eine Dummheit, wenn er sie nicht kennt.

Das Problem dahinter bleibt: Aus welcher ethischen Berechtigung werden der mittelständischen Minderheit unseres Volkes immer mehr Zahlungen aus angeblicher Solidarität abgefordert? Gibt es für die heutige Höhe der Zwangsabgaben überhaupt noch ethische Fundamente?

1. Seit mehr als zwei Jahrhunderten waren die christlichen Kirchen mit ihrer Sozialarbeit Träger einer aus der Bibel und aus dem „11. Gebot“ der Nächstenliebe abgeleiteten allgemeinen Solidarität, haben sie die Hilfe für Bedürftige, für Kranke und Schwache aus ethischen Gründen geübt – oft ohne Bezahlung und in bewundernswerter Selbstaufopferung, weil die christliche Nächstenliebe auch als Ausübung christlichen Lebens und christlicher Grundsätze im Sinne von Verkündigung verstanden wurde. Inzwischen aber hat der ganze Sozialsektor nicht mehr viel mit christlicher Nächstenliebe zu tun. Selbst die Kirchen haben sich aus der Verkündigung (es gibt nicht einmal mehr 50.000 Pfarrer und Priester) zu einer Sozialinstitution mit mehr als 1,2 Millionen bezahlten Sozialmitarbeitern gewandelt. Der staatliche Sozialsektor hat sich zum knallharten Sozialgeschäft mit Millionen von Sozialfunktionären und zig Millionen Sozialuntertanen entwickelt, bei dem nicht Nächstenliebe, sondern Geschäft und Verdienst, gesetzliche Ansprüche und die bezahlte Befriedigung dieser Ansprüche im Vordergrund stehen.

Das kann auch nicht anders sein, wenn die Zahl der Christen in unserer Bevölkerung immer mehr zurückgeht, im Osten nur noch ein Viertel der Bevölkerung darstellt, im Westen knapp mehr als die Hälfte. Nicht mehr Glaube und Nächstenliebe treibt die Menschen zur Solidarität, sondern die angebliche öffentliche Solidarität ist längst eine eigene Sozialindustrie geworden, von der sich zum Teil üppig, jedenfalls sicher leben läßt. Wenn Gauck also Solidarität aus christlicher Nächstenliebe gemeint hätte, kann dies kein allgemeingültiger Appell mehr sein, nicht einmal mehr im kirchlichen Bereich, jedenfalls nicht bei der Mehrheit unserer glaubensfernen Bevölkerung.

2. Theoretisch könnten Gaucks Solidaritätsappelle auch im nationalen Sinne von mehr Gemeinsinn und Verantwortungsübernahme der Deutschen füreinander verstanden werden. Aber auch das darf man dem Bundespräsidenten nicht unterstellen, weil er leidenschaftlich wie die gesamte Berliner Politszene im „Kampf gegen Rechts“ gegen jede nationale Gesinnung und für eine diffuse multikulturelle „Bevölkerung in Deutschland“ statt eines deutschen Volkes kämpft.

Gauck kann man auch keinen „Haß auf Deutschland“ vorwerfen, wie dies andere führende Politiker wie zum Beispiel von Weizsäcker oder Trittin seit der Hitlertreue ihrer Väter als Pflichtübung absolvieren, sondern wohl mehr neuen Gehorsam gegenüber dem internationalen Kapitalismus und dem von ihm beherrschten Europa, das im Vertrag zu Lissabon allen Nationalstaaten abgeschworen und eine neue europäische Einheit verkündet hat. Dieses Einheitseuropa wird gerade von der jetzigen Politikergeneration als Finanz-, Haftungs- und Schuldenunion ausgebaut, um die deutschen Steuerzahler „solidarisch“ zur Zahlung der Schulden für die europäischen Südländer und deren internationale Gläubigerbanken heranzuziehen.

Im Namen angeblicher europäischer Solidarität müssen also die deutschen Politiker ihre Bürger und Wähler mit Fremdschulden Europas belasten. So viel Europa-Solidarität – und Betrug gegenüber den Wählern – hat es noch nie gegeben. Sie steht allerdings im Gegensatz zu allen nationalen Interessen, offenbar aber im Interesse einer höheren Finanzmacht und der von ihr verkündeten „Political Correctness“. Wenn somit die Politik nicht mehr für, sondern gegen die nationalen Interessen Deutschlands handelt und jeder Nationalgedanke verteufelt wird, ist jedenfalls öffentliche Solidarität nicht mehr national begründbar.

3. Aus der Forderung nach „Brüderlichkeit“ der Französischen Revolution hat der Sozialismus eine Klassenkampfsolidarität des Proletariats im Kampf gegen das Kapital abgeleitet mit der Forderung, daß sich die Sozialisten in diesem Kampf zu verbrüdern hätten – nicht nur national, sondern auch international. Dies schließt nicht nur die Hilfe untereinander ein, wie sie sich in der Gründung von sozialistischen Hilfsorganisationen wie „Arbeiter-Samariter-Bund“, „Konsumvereinen“ und anderem zeigt, sondern gilt auch international („Proletarische Internationale“). Diese sozialistische Ideologie war vor allem im vergangenen Jahrhundert Grundlage für die Solidarität aller Sozialisten untereinander in ihrem gemeinsamen Machtkampf, aber auch im gesellschaftlichen Leben.

Inzwischen hat sich jedoch gezeigt, daß der Sozialismus nirgendwo zu mehr Freiheit des einzelnen Menschen und nicht einmal zu dessen höherem Wohlstand geführt hat, sondern daß die „Diktatur des Proletariats“ viel brutaler als die des Kapitalismus war und regelmäßig zu einer Funktionärsdiktatur der Sozialfunktionäre über Sozialuntertanen geführt hat. Die angebliche Solidarität war also nur ein Vorwand der Funktionärsclique, um damit ihre Macht zu erringen und einen Sozialfeudalismus zu eigenen Gunsten aufzubauen.

Der Schwindel des Sozialismus ist jedenfalls inzwischen seiner ethischen Begründung entkleidet, ist bloße Machtkategorie geblieben und damit keine ethische Grundlage für einen allgemeinen Solidaritätsanspruch mehr.

Wenn deshalb heute die Sozialisten die glühendsten Verfechter für die europäische Schuldengemeinschaft, für Euro-Bonds und für die Haftungsübernahme deutscher Steuerzahler für ganz Europa und seine Banken sind, läßt sich dies politisch nicht mehr aus der politischen Idee der Brüderlichkeit begründen, weil es sich letztlich ja um Kapitalismushilfe zugunsten der internationalen Banken handelt. Der Grund für die Euro-Hilfsbegeisterung sind die Bilderberger-Einflüsse auf Steinbrück und Trittin und deren Bindungen an das internationale Großkapital.

Jedenfalls ist auch aus der Idee des Sozialismus eine allgemeine ethische Grundlage für die Solidaritätsforderung in Gaucks Weihnachtsansprache nicht mehr abzuleiten.

4. Solidarität gibt es auch aufgrund gemeinsamer Interessen. In einer Sportmannschaft zum Beispiel steht einer für den anderen ein, weil man gemeinsam siegen will. In Vereinen wird gemeinsam für Vereinsziele gearbeitet, hilft ein Vereinsmitglied dem anderen zur Erreichung dieser Ziele. Auch in anderen Gruppen gibt es aufgrund einer Interessengemeinschaft Gemeinsamkeiten, die eine gewisse Solidarität fordern oder schaffen.

Im Unterschied zum öffentlichen Sektor handelt es sich hierbei aber um dezentrale private Solidaritätszusammenschlüsse, um freiwilligen Beitritt der Vereinsmitglieder zum gemeinsamen Ziel mit der Möglichkeit des freiwilligen Austritts. Ein Beispiel hierfür ist die Johanniter-Hilfe, in der sich freiwillige, meist ehrenamtliche Helfer für Rettungsstationen oder Krankenhäuser zusammenschließen und dies durch ihre Beiträge finanzieren. Die am weitesten verbreitete private Solidarität ist die der Familie, die Hilfs- und Interessengemeinschaft der Familienmitglieder untereinander.

Unsere Politik spricht jedoch nicht von privater Interessensolidarität, sondern sie meint öffentliche Solidarität mit gemeinsamen öffentlichen Interessen und deren Verwirklichung durch die Bürger.

Eine veraltete idealistische Staatsidee geht nämlich von einem Sozialvertrag aus („contrat social“) und behauptet, daß die Bürger sich freiwillig zusammengeschlossen hätten, um den Staat, seine Regierung und seine Ziele zu tragen – eine durch die sozialistische Klassenkampfthese als Utopie abgetane Staatsauffassung. Sie begegnet uns zwar noch immer in Behauptungen und Wahlreden der Parteien, hat aber mit der Wirklichkeit nicht mehr viel zu tun. Unser Staat ist nämlich immer weniger Demokratie geworden – weil immer mehr zentral aus Europa regiert wird –, und die herrschende Elite der Polit- und Sozialfunktionäre ist längst nicht mehr für das Volk, sondern im internationalen Interesse gegen das Volk tätig. Das zeigen sowohl die ausbeuterische Steuer- und Sozialabgabenpolitik als auch die Belastung der deutschen Bürger und Wähler mit Billionen Euroschulden zur Erhaltung der internationalen Bankenkredite (Haftungs- und Schuldenunion), die nicht zugunsten der Bürger, sondern gerade gegen deren Interessen übernommen wurden, nämlich zur Absicherung von internationalen Schulden der US-Finanzindustrie.

Die schöne Mär von gemeinsamen öffentlichen Interessen und Solidarität ist also längst einem brutalen Kampf um Macht und Geld, um Ausbeutung und Korruption gewichen. Dieser Staat ist nicht mehr unser Idealstaat, sondern Provinz der internationalen Hochfinanz und handelt nicht in unserem, sondern in deren Interesse, wie der ESM („Europäischer Schulden-Moloch“) zeigt. Deshalb ist es nur folgerichtig, daß die Reichen steuerlich längst auswandern und die Unterschicht sich durch Massenschwarzarbeit der Ausplünderung entziehen will. Solidarität ist dies nicht. Sie wird in Sonntagsreden der Politiker nur vorgetäuscht, um die Ausplünderung des Mittelstandes zu begründen.

5. Per Saldo ist also keine ethische Grundlage für die von Gauck und anderen geforderte öffentliche Solidarität mehr gültig. Längst zerfällt unser Staat in eine ausbeuterische Sozialfunktionärsschicht und die von deren Transferleistungen lebende Bevölkerungsmehrheit einerseits und eine Minderheit des fleißigen Mittelstandes (etwa 40 Prozent) andererseits, der unter dem Schlagwort Solidarität immer höhere Abzüge ihres Arbeitsertrages und ihres Vermögens zugemutet werden. Die rot-grünen Plünderer warten nur darauf, an die Macht zu kommen, um die noch im Lande verbliebenen Leistungsträger höher zu besteuern („Reichensteuer“) und deren Vermögen zur Umverteilung zu plündern (Vermögenssteuer, Erbschaftssteuer und andere).

Wer wählt diese Plünderer? Da die Mehrheit der Bevölkerung längst Transfereinkommensbezieher oder von Steuern und Sozialabgaben lebende Sozialfunktionäre sind, hat die Mehrheit der Bevölkerung und der Wähler mehr Interesse an weiterer Ausplünderung der Leistungsträger statt an Solidarität. Die Leistungsträger haben sich schon allzu lange unter Solidaritätsvorwänden ausplündern lassen, sind an ihre Toleranzgrenze gekommen und denken wie in anderen Ländern an Massenauswanderung beziehungsweise Massensteuerhinterziehung wie Schwarzarbeit, statt weitere „solidarische“ Ausplünderung zu dulden. Öffentliche Solidarität ist immer mehr öffentlicher Verteilungskampf geworden.

Gauck war Pfarrer und ist Sozialist, der die Realitäten nicht kennt. Für ihn mag öffentliche, christliche oder sozialistische Solidarität noch gelten. Wenn er aber diese nur noch für ihn geltende Solidarität ohne generell geltende ethische Grundlagen als Forderung an alle erhebt, ist dies nur noch billige, populistische Rhetorik, und er macht sich wieder einmal lächerlich.

 

Prof. Dr. Eberhard Hamer, Jahrgang 1932, war bis 1995 Professor für Wirtschafts- und Finanzpolitik in Bielefeld. 1975 gründete er das Mittelstandsinstitut Niedersachsen, dem er seither vorsteht. Der Volkswirt gilt als Begründer der Mittelstands­ökonomie. Er arbeitet als Rechtsanwalt in Hannover.

Foto: Nehmerqualitäten: Wenn ein Volk nur zu einem Drittel aus Zahlern, zu zwei Dritteln aber aus Transferleistungsempfängern besteht, ist der Appell an die Zahler zu mehr Solidarität eigentlich eine Unverschämtheit

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