© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/13 / 29. März 2013

1933 als Zäsur der Impfgeschichte: Dienst am Volkskörper
Die Erfindung des präventiven Selbst
(ob)

Mit jedem Herbst stellt sich die Gretchenfrage neu, ob man sich gegen Grippe impfen lassen soll. Allein diese Reflexion weist den Bundesbürger nach den Forschungen des Oldenburger Historikers Malte Thießen (Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 1/2013) als mentalen Erben des Dritten Reiches aus. Denn dieses persönliche Verantwortungsgefühl für die eigene Gesundheit, das „präventive Selbst“, haben unsere Eltern und Großeltern nach 1933 ausgebildet und ihren Kindern und Enkeln vermittelt. Vorher sei der „Obrigkeitsstaat“ der einzige biologische Akteur gewesen, der bei der „Immunisierung des Volkskörpers“ allein auf Zwang setzte. Ausgerechnet die nationalsozialistische Gesundheitspolitik habe dann bei der seit Kaisers Zeiten „repressiven“ Impfgeschichte an die Eigenverantwortung der Bürger appelliert, dem zugleich ein erweitertes Angebot zur Gesundheitsvorsorge gemacht wurde. Denn es gehe schließlich um das Verhältnis zwischen der Sicherung des Allgemeinwohls und dem Schutz des einzelnen. Wenn man auch die „Sorge um sich“ als Dienst am „Volkskörper“ verstand, die somit als „Individualisierung wider Willen“ zu deuten sei, wie Thießen nicht ganz stimmig argumentiert, sei doch auf diesem gesundheitspolitischen Feld der Grundstein für spätere Jahrzehnte mit ihren Individualisierungsschüben gelegt worden.

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