© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/13 / 29. März 2013

Unangenehme Anklagen
Alfred de Zayas’ Werk über dokumentierte alliierte Kriegsverbrechen liegt in einer neuen Ausgabe vor
Stefan Scheil

Im Jahr 1979 erlebte die Bundesrepublik einen geschichtspolitischen Aufreger. Der US-amerikanische Jurist und Völkerrechtler Alfred de Zayas brachte nach jahrelanger Recherche einen umfangreichen Band über alliierte Verstöße gegen das Kriegsrecht zwischen 1939 und 1945 heraus. Er tat das auf Basis von Akten der 1939 gegründeten „Wehrmacht-Untersuchungsstelle“, die Ende der sechziger nach jahrzehntelanger Beschlagnahme aus den USA zurückgekehrt waren und seitdem der Forschung offenstanden. Nachdem Hellmut Diwald im Vorjahr seine „Geschichte der Deutschen“ herausgebracht und ein politisches Erdbeben verursacht hatte, stellte mit de Zayas ein weiterer Historiker ganz ungewohnte und unbequeme Fragen mit Blick auf die NS-Zeit.

Das ist eine Generation her. Mittlerweile erlebt das Buch die 8. Auflage und kann selbst Gegenstand historischen Interesses werden. Aus den zahlreichen, überwiegend positiven Reaktionen über die „Wehrmacht-Untersuchungsstelle“ läßt sich zum Beispiel trotzdem sehr deutlich der passive und sich selbst nervös rechtfertigende Zug herauslesen, der die Debatte über alliierte Kriegsverbrechen auch schon vor dreißig Jahren gekennzeichnet hat. Der Autor wolle „nicht aufrechnen“, betonte damals die längst eingestellte „ZDF-Drehscheibe“. Der „qualitative Unterschied“ zwischen deutschen und anderen Verbrechen bleibe stets erkennbar, beruhigte sich mit Andreas Hillgruber die seinerzeitige Historikerprominenz in der Historischen Zeitschrift. Daß solche Feststellungen selbst immer bereits aufrechnen, verdrängten beide erfolgreich. „Die Furcht vor Kritikern, die einwenden können, man hätte die Finger von dieser Materie lassen sollen, sitzt den Autoren im Nacken“, kommentierte die Bundeszentrale für politische Bildung schon 1980.

Wohl aus dieser Sorge heraus räumten de Zayas und seine Mitstreiter auch manchen offenkundigen Fälschungen und Desinformationen der deutschen Kriegsgegner eine Art unangreifbaren Status ein. Die sowjetischen Massenmorde von Katyn als mögliche Fehlanklage und Erfindung von deutscher Seite darzustellen, war 1979 eigentlich schon kaum erträglich. In der Ausgabe von 2012 noch den Satz lesen zu müssen, daß „die Sowjetunion jede Schuld an der Ermordung der polnischen Offiziere bestreitet“, wirkt ganz aus der Zeit gefallen, nachdem diese Schuld seitens der UdSSR kurz vor ihrem Ende vor fast einem Vierteljahrhundert offiziell eingestanden wurde.

Hier hätte nachgebessert werden müssen. Die von de Zayas erwähnte „außerordentliche Staatskommission“, mit deren Hilfe die UdSSR für Katyn und andere Orte mit viel Phantasie und System gefälschte Dokumente und Zeugenaussagen produzierte, hätte sogar gut mit der bürgerlich-seriösen Arbeit der Wehrmacht-Untersuchungsstelle kontrastiert werden können. Bei der Lektüre stellt sich an etlichen Stellen eher ein gewisses Kopfschütteln darüber ein, wie akribisch und mißtrauisch gegenüber den Angaben deutscher Soldaten bei der Untersuchungsstelle gearbeitet wurde.

Mit so etwas hielt sich die sowjetische „Staatskommission“ nicht auf. Ihre Unterlagen zu Katyn sind eine detaillierte Totalfälschung, während die Untersuchungsstelle offenbar in keinem Fall dergleichen produzierte. Die vielfach zur Gewohnheit gewordene Agitation gegen zeitgenössische deutsche Aktenbestände und Veröffentlichungen als per se unglaubwürdigem „Nazi-Material“ hat es dringend nötig, substantiell in Frage gestellt zu werden.

Das zeigt die Probleme, die zurückhaltende, präzise Geschichtsschreibung in einem politisierten Umfeld hat. Vielleicht ist dieses Umfeld in der Bundesrepublik im Jahr 2012 sogar noch verminter als je zuvor. Dennoch und vielleicht auch deswegen bleibt die „WehrmachtUntersuchungsstelle“ ein Klassiker der Geschichtsschreibung. Es bleiben nach der Lektüre keine Zweifel an der Qualität der geleisteten Arbeit. Statt dessen ergeben sich immer wieder Anregungen für neue Fragegestellungen an das Material der Untersuchungsstelle, das weiterhin im Bundesarchiv lagert und dort von Historikern wenig oder gar nicht genutzt wird. Für neue geschichtspolitische Aufregungen ergibt das eine Menge Spielraum.

Alfred de Zayas: Die Wehrmacht-Untersuchungsstelle für Verletzungen des Völkerrechts, 8. Aufl. Lindenbaum Verlag, Beltheim 2012, gebunden, 502 Seiten, Abbildungen, 29,80 Euro

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen