© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/13 / 29. März 2013

112 – Eine deutsche Erfolgsgeschichte
Schnelle Durchwahl zu schneller Hilfe: Eltern eines verunglückten Jungen setzten sich gegenüber behäbiger Politik durch
Sverre Schacht

Eine eingängige Telefonnummer für alle Behörden, diese Erleichterung des Alltags führen gerade einige Bundesländer mit der Rufnummer 115 ein. Das große Vorbild der Aktion ist der Notruf 112. Diese heute selbstverständliche Durchwahl zu schneller Hilfe rettet inzwischen in fast ganz Europa Leben, weil sie schnell Feuerwehr, Krankenwagen und ärztliche Hilfe über Notrufzentralen herbeiholt. Sie ist jedoch keine Selbstverständlichkeit, erst recht keine staatliche, sondern beruht auf dem Einsatz einer privaten Stiftung.

Ob als allgemeiner Notruf in Island oder Kasachstan oder in der Türkei als Nummer für den Rettungsdienst – die 112 breitet sich weltweit immer weiter aus. Am 11. Februar war der Europäische Tag des Notrufs 112.

Als deutsche Erfolgsgeschichte geht die kurze Nummer auf ein tragisches Ereignis zurück: Am 3. Mai 1969 wird Björn Steiger wenige Tage vor seinem neunten Geburtstag auf dem Weg vom Schwimmbad nach Hause von einem Auto erfaßt. Zeugen des Unfalls im baden-württembergischen Winnenden rufen sofort Polizei und Rotes Kreuz. Mehrfach werden Retter alarmiert, doch es dauert fast eine Stunde, bis ein Krankenwagen am Unfallort ankommt. Der durch die Kollision schwer verletzte Junge stirbt während des Krankentransports, aber nicht an seinen Verletzungen, sondern an einem Schock. Er hört auf zu atmen.

Der Vorfall bewegte bundesweit Menschen und rief die damals mangelhaften Bedingungen von Rettung und Krankentransport erstmals einer breiten Öffentlichkeit ins Bewußtsein. Leitstellen gab es nicht, überhaupt fehlte ein effektives Rettungssystem. Für den Krankentransport standen nur Fahrzeuge ohne medizinische Ausrüstung geschweige denn ärztliche Überwachung der Unfallopfer beim Transport bereit. Taxen waren zwar mit Funk ausgestattet, Ambulanzwagen aber aus Kostengründen nicht.

Björns Eltern Ute und Siegfried Steiger wollten solche Erklärungsversuche nicht akzeptieren. Sie gründeten am 7. Juli 1969 mit sieben Freunden die Björn Steiger Stiftung als gemeinnützigen Verein. Hilda, die Frau des damaligen Bundespräsidenten Gustav Heinemann, ebnete den Zugang zur Politik. Seither regen die Stifter den Auf- und Ausbau der Notfallhilfe mit Geschenken, Erfindungen und Forderungen an, bis zuständige Organisationen und Behörden übernehmen.

Der Stern des Vereins, eine symbolische Kreuzung, steht für bisher viele Erfolge: die Einführung eines bundeseinheitlichen Notrufs 110 und 112, stationäre Notfalltelefone an bis heute 35.000 Kilometern Straße, die zivile Luftrettung sowie die Etablierung von Notarzt- wie Baby-Notarztwagen. Stand am Anfang die mißglückte Rettung eines Kindes, finanziert die Stiftung inzwischen längst die Notfallausbildung von Kindern. Unter www.retten-macht-schule.de  macht sich die Organisation heute dafür stark, Siebtkläßler flächendeckend zu Ersthelfern auszubilden. Ein ehrgeiziges Ziel, geht es doch laut Stiftung um 966.000 Schüler.

Ehrgeizige Ziele haben die Stiftung noch nie abgeschreckt: 1970 gründeten die Wegbereiter der Rettung erst einmal die „Arbeitsgemeinschaft Rettungsdienst Nordwürttemberg“, um der Politik einen Ansprechpartner zu bieten, und verteilten Funkgeräte für den damals stolzen Gesamtpreis von 670.000 DM an Rettungsdienste – jedes kostete so viel wie ein VW-Käfer. Durch originelle Pappkarten mit zwei Groschen darauf, ausgelegt in Telefonzellen, wurden deren Nutzer auf die Vorteile kostenloser Notrufe hingewiesen. Flächendeckende Realität wurde das erst in den achtziger Jahren.

Im Dezember 1971 stellten die Stifter die Politik vor vollendete Tatsachen: Erste vollständig ausgerüstete Rettungswagen wurden an jedes Bundesland übergeben. Seither hat sich die Stiftung mit Geschenken dieser Art einen Ruf erworben, auch einen unbequemen. Das entscheidende Ringen um die politisch anfangs als „zu teuer“ abgetane 112 endete 1973. Der damalige Bundespostminister Horst Ehmke (SPD) teilte Steiger über Telefon mit: „Ich darf Ihnen sagen: Ihr Dickschädel hat sich durchgesetzt. Wir haben den Notruf beschlossen.“ Jeden Werktag gehen nach neuesten Zählungen deutschlandweit rund 35.000 telefonische Rettungsrufe bei den Leitstellen ein.

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