© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/13 / 05. April 2013

Man ist sich nicht immer grün
Halbzeitbilanz: In Baden-Württembergs grün-roter Koalition knirscht es. Einig sind sich die Partner nur bei der Abschaffung des bewährten Schulsystems
Michael Paulwitz

Beträchtlicher Flurschaden in einem ehedem gut funktionierenden Schulsystem, ein munter wachsender Schuldenberg, Chaos und Kleinkrieg in der Energiepolitik und um „Stuttgart 21“, ungenierter Türkei-Lobbyismus und ein unsichtbarer „Superminister“ – das Etikett „durchwachsen“ ist noch geschmeichelt für die Halbzeitbilanz nach zwei Jahren Grün-Rot in Baden-Württemberg. Gäbe es nicht den präsidial über den Alltagsniederungen onkelnden ersten grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann, der geschickt vom Treiben der Ideologen in seiner Truppe ablenkt, und den nach wie vor intakten Grünen-Fanklub in den Landesmedien, die konstant hohen 70-Prozent-Zustimmungsraten für die erste Landesregierung unter grüner Führung wären vollends unerklärlich.

An der Sollbruchstelle des Stuttgarter Bahnhofsprojekts knirscht es seit Wochen wieder gewaltig. Äußerer Anlaß für das Wiederauftauchen des Ungeheuers von „Stuttgart 21“ ist der Dilettantismus des Bauherrn Deutsche Bahn im Projekt- und Kostenmanagement; tieferer Grund sind grüne Hoffnungen, mit dem Bahnhofsthema auch noch bei der Bundestagswahl abzuräumen und dem Parteivorsitzenden Cem Özdemir endlich das ersehnte Direktmandat in der Schwabenmetropole zu erobern.

Zum Koalitionsbruch kommt es natürlich nicht. Für die blasse SPD wäre das Harakiri; also hilft sie den Grünen, in ihrer ersten gemeinsamen Regierungsperiode das Land ideologisch gründlich umzukrempeln. Ganz oben auf der Prioritätenliste steht die Zerstörung des differenzierten dreigliedrigen Schulsystems aus Haupt- und Werkrealschule, Realschule und Gymnasium. Der Zangenangriff wird aus zwei Richtungen geführt: Der als „Gemeinschaftsschule“ wiederbelebte bildungspolitische Ladenhüter Gesamtschule soll zur „zweiten Säule“ des Schulwesens werden und die anerkannt erfolgreichen baden-württembergischen Realschulen aushungern; zugleich werden die Gymnasien durch administrative Kniffe zu Quasi-Gesamtschulen degradiert.

Die Abschaffung der verbindlichen Grundschulempfehlung als eine der ersten grün-roten Amtshandlungen hat die Gymnasiastenzahlen sprunghaft ansteigen und vor allem innerstädtischen Gymnasien eine Vielzahl ungeeigneter Schüler beschert; daß dieser Trend, der sich bei den Anmeldungen zum kommenden Schuljahr verfestigt hat, zu Lasten der Leistung geht, geben Pädagogen unumwunden zu. Bereits geplante Abschulungsverbote, die die Abgabe unbrauchbarer Schüler ausschließen, und als neuester Streich eine ins Auge gefaßte Reform der Lehrerausbildung, die den Gymnasialpädagogen zugunsten eines Einheits-Sekundarstufenlehrers faktisch abschafft, sollen die Niveauabsenkung zementieren.

Das mit dem Ansturm auf die Gymnasien einhergehende Ausbluten der Hauptschulen erhöht den Druck auf die kommunalen Schulträger, „Gemeinschaftsschulen“ einzurichten, um Schulstandorte zu retten.

Das ideologische Hätschelkind wird systematisch bevorzugt; so erhalten Gemeinschaftsschulen in Baden-Württemberg doppelt so hohe Sachkostenzuweisungen pro Schüler wie Realschulen. Das Elterninteresse ist dennoch mäßig, die Anmeldezahlen vielerorts verhalten, während der einflußreiche Arbeitgeberverband Südwestmetall und selbst die IG Metall vor der Kannibalisierung der dualen Berufsausbildung warnen. Die GEW dagegen ist unzufrieden, daß es mit Gesamt- und Ganztagsschule nicht schnell genug vorangeht. Glätten soll die Wogen der neue SPD-Kultusminister Andreas Stoch, der auf Druck der Fraktion vor wenigen Wochen die sprunghaft und wenig kompetent agierende Gabriele Warminski-Leitheußer abgelöst hat. Solche Personalentscheidungen sind ein Grund, warum die SPD unter ihrem Landeschef Nils Schmid in der Koalition kaum Profil entfaltet, obwohl sie sich alle Schlüsselressorts gesichert hat. Schmid selbst ist zwar „Superminister“ für Wirtschaft und Finanzen, aber auch bei ihm gehen ideologische Projekte vor Haushaltssanierung, und als Wirtschaftsminister bleibt er weitgehend unsichtbar.

Der mit einer Türkin verheiratete Jurist verbreitet vor allem dann Enthusiasmus, wenn er sich in Wahlreden auf türkisch als „Schwiegersohn aller Türken“ inszeniert oder für ein Privatgymnasium der Erdoğan-nahen fundamentalistischen Gülen-Bewegung in Stuttgart einsetzt.

Auch die von Schmid persönlich ausgesuchte Berliner SPD-Politikerin Bilkay Öney, für die eigens ein „Integrationsministerium“ aus dem Boden gestampft wurde, ist immer schnell bei der Sache, um Sonderwünsche der türkischen Lobbyverbände zu erfüllen, beispielsweise mit der Änderung der Friedhofsordnung. Dafür ist Baden-Württemberg Schlußlicht bei der erleichterten Anerkennung ausländischer Bildungsabschlüsse; davon allerdings würden auch eher deutschstämmige Aussiedler und russischsprachige Einwanderer profitieren.

Bei den grünen Kabinettskollegen hakt es ebenfalls bisweilen: Der geplante massive Ausbau der Windkraft kommt nicht voran, weil sich die Begeisterung für neue Standorte bei den Bürgern in Grenzen hält. Als Schuldige hat Grün-Rot die Landräte ausgemacht, die bei den Genehmigungen „mauern“; sie sollen zum Wohle der Energiewende entmachtet werden. Oder mittelfristig durch eigene Leute ersetzt werden. Schon bei den Kommunalwahlen 2014 soll das Wahlalter auf 16 Jahre sinken. Ein Schelm, wer da argwöhnt, es gehe vor allem um die Erschließung einer neuen Wähler-klientel: Die Grünen richten sich erkennbar auf Dauer an den Schalthebeln der Macht im Südwesten ein.

Foto: Grünen-Ministerpräsident Winfried Kretschmann: Begeisterung der Bürger für den massiven Ausbau der Windenergie hält sich in Grenzen

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