© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/13 / 05. April 2013

Reich des Drachen auf Abwegen
China: Die Überalterung der Gesellschaft bleibt nicht ohne einschneidende Folgen für den Wirtschaftsstandort
Marc Zöllner

Wen Jiabao galt nie als Hardliner in Chinas Führungsriege. „Opa Wen“ ließ er sich gern im Volk nennen, der einfache, schüchterne, unbescholtene Bürger. Demütig, wie er 2003 vom Volkskongreß gewählt wurde, wollte er 2013 auch wieder gehen. „Junge Vögel singen schöner als alte“, so Wen in seiner Abschiedsrede. Nach zehn Jahren im Amt schied Wen Jiabao nun turnusgemäß von seinem Posten als Premier der Volksrepublik China aus. Was mit ihm geht, sind die Querelen um das in seiner Amtszeit vom Wen-Clan erworbene Multimilliarden-Dollar-Vermögen. Was jedoch bleibt, sind die wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Scherbenhaufen nicht nur der Wen-Politik, sondern auch jener der in sich dogmatisierten KP.

Chinas gravierende Probleme sind eng mit dessen Bevölkerungswachstum verknüpft. Über 1,3 Milliarden Menschen leben im Reich der Mitte, Tendenz steigend. Um einer Bevölkerungsexplosion sowie drohenden Hungersnöten entgegenzuwirken, beschloß Chinas KP vor gut 30 Jahren Gesetze, welche urbanen Familien lediglich ein Kind pro Elternhaus gestatteten. Zuwiderhandlungen werden bis heute drakonisch bestraft, nicht nur mit hohen Bußgeldern, sondern ebenso mit Zwangsabtreibungen.

Daß Chinas Ein-Kind-Politik sich auf künftige Generationen fatal auswirken könnte, dessen war man sich jedoch nicht bewußt. Bis zu diesem Januar, als das Statistikamt bekanntgab, daß Chinas arbeitsfähige Bevölkerung im Alter zwischen 15 und 60 Jahren, erstmals gesunken sei. Dreieinhalb Millionen Menschen fehlen nun auf dem Arbeitsmarkt.

Der unaufhaltsame Alterungsprozeß der chinesischen Gesellschaft macht sich außerhalb der Statistikämter längst spürbar bemerkbar. Schon jetzt herrscht eine große Nachfrage an billigen, jedoch gut ausgebildeten Arbeitern in Industrie und Dienstleistung. Chinas wachsende Mittelschicht fühlt sich nicht mehr genötigt, Arbeiten in Straßenbau und sanitärer Reinigung zu tätigen. Die Masse der in die Städte wandernden Bauern hingegen – allein während Wens Regentschaft seit 2007 über 84 Millionen Menschen – wurde nie adäquat ausgebildet. Was bleibt, sind Gastarbeiter aus Afrika.

Offizielle Zahlen zur Einwanderung sind in China nur spärlich zu bekommen. In den Statistiken werden lediglich jene Einwanderer aufgeführt, die mit ihrem Hauptwohnsitz mindestens sechs Monate am Stück im Land gemeldet sind. Saison- und Leiharbeiter rechnet man nicht hinzu, allein schon, um immer wieder aufkeimende rassistische Strömungen innerhalb der autochthonen Bevölkerung nicht weiter zu nähren.

Trotz alledem leben laut Angaben Pekings mittlerweile über eine halbe Million Schwarzafrikaner permanent in China, beinahe allein die Hälfte davon in der Industriemetropole Guangzhou, dem früheren Kanton, wo die jährliche Wachstumsrate der afrikanischen Gemeinde mittlerweile 30 bis 40 Prozent beträgt. Die Dunkelziffer der illegal im Land bleibenden Afrikaner wird insbesondere in den Küstenmetropolen auf ein Vielfaches geschätzt – und geduldet: China ist sich seiner zunehmenden Abhängigkeit vom afrikanischen Rohstoff- und Menschenmarkt durchaus bewußt.

Die Überalterung der Gesellschaft bremst zudem Chinas Wirtschaft aus. Konnten in den letzten Jahren noch satte zehn Prozent an Wachstum erzielt werden, prognostizieren Ökonomen für die kommenden Jahre einen Wachstums-einbruch um drei bis fünf Prozent allein aufgrund mangelnder Arbeitskräfte. Damit steckt die KP in einem weiteren Dilemma.

Zwar konnten Schwankungen bis zur Weltwirtschaftskrise von 2008 mit großzügigen Anleihen und Krediten ausgeglichen werden. Diese Kassen, so bestätigten kürzlich erst Analysten des gutinformierten japanischen Nachrichtenmagazins The Diplomat, sind mittlerweile jedoch erschöpft. Schlimmer noch: Viele der bezuschußten Projekte erwiesen sich als unrentabel. So vergaben chinesische Banken auf Staatsgeheiß zwischen 2009 und 2012 Privatkredite von umgerechnet rund fünf Billionen Euro.

Zum unausgeglichenen Bankenhaushalt addieren sich noch einmal zwischen zwei bis drei Billiarden Euro an Staatsverschuldung; etwa 40 bis 50 Prozent des derzeitigen chinesischen Bruttoinlandsproduktes. Um diese gewaltige Finanzblase nicht vorzeitig platzen zu lassen, verordnete Wen Jiabao 2012 den Banken, ihre Kredite für staatliche Projekte um ein Jahr zinsfrei zu verlängern. Der Staat wiederum benötigt diese Gelder dringend, insbesondere für infrastrukturelle Maßnahmen. Die Millionen von Arbeitern, die jedes Jahr aus den ländlichen Regionen, aus Indochina und aus Afrika in Großstädte angesiedelt werden, benötigen Wohnungen, Wasser, Strom und Krankenversorgung. Das alles sind jedoch Projekte, welche sich erst nach langer Laufzeit rentieren. Auch dieses Jahr werden Chinas Banken kein Geld vom Staat sehen.

Kritiker werfen Wen Jiabao nun vor, nicht genügend an der Feinmechanik der gesellschaftspolitischen Entwicklung justiert zu haben. Doch den gordischen Knoten zwischen Bevölkerungskontrolle, Überalterung und Wirtschaftswachstum zu lösen ist auch seinen Vorgängern schon nicht gelungen. Seine Nachfolger wiederum interessieren sich gar nicht erst für dieses Dilemma. „Schlachten zu gewinnen“ laute nun die Devise, die Chinas neuer Präsident Xi Jinping diesen Monat erließ und gleichzeitig den Militärhaushalt um elf Prozent erhöhte.

Foto: Spaziergänger in einem Pekinger Park: Im Januar sank erstmals die Zahl der arbeitsfähigen Bevölkerung

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