© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/13 / 05. April 2013

Zeitschriftenkritik: Avisor
Labyrinth des Lebens
Werner Olles

Die Gestaltung künstlicher Irrwege, Labyrinthe und Irrgärten ermöglicht den Menschen die Faszination kontemplativer Erfahrungen, weil sie sinnbildlich für das menschliche Leben schlechthin stehen. Ciceros „Irren ist menschlich“ und Goethes „Es irrt der Mensch, solang er strebt“ lassen sich auch so deuten, daß der Mensch ein Irrläufer der Evolution ist. Zwar schmeichelt uns die weitverbreitete Ansicht vom Menschen als „Krone der Schöpfung“, doch sehen Kultur- und Naturpessimisten den Homo sapiens inzwischen eher als Krebsgeschwür des Erdballs, das sich mit seinem unkontrollierten Wuchern irgendwann selbst erledigen wird.

Aber ob Irrweg oder Krone, das Urteil über uns, ob und wann wir dereinst zu den in der Evolution auf der Strecke gebliebenen Lebewesen zählen, wird erst viel später gefällt werden. Die bisherige Entwicklung stimmt allerdings nicht gerade optimistisch, denn tatsächlich sind die meisten Arten gescheitert, darunter auch Menschenarten wie die Neandertaler.

Die vom Bayerischen Staatsministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst vierteljährlich herausgegebene Zeitschrift Aviso befaßt sich in ihrer aktuellen Ausgabe (1/2013) schwerpunktmäßig mit dem Thema „Auswege – Umwege – Irrwege“ und erinnert in diesem Zusammenhang daran, daß Umwege beileibe nicht immer Abwege sein müssen. Zwar führen letztere oft in Sackgassen oder bergen die Gefahr, das eigentliche Ziel aus den Augen zu verlieren, doch um sich neu und besser zu orientieren, sind sie manchmal durchaus sinnvoll. Und Umwege sind unter Umständen gar die interessanteren Wege. Denken wir beispielsweise an Odysseus, den Götterzorn, Sirenengesänge, zyklopische Freßattacken und ähnliche Abenteuer davon abhielten, auf geradem Weg heim zu Penelope zu fahren. Welch grandioser Mythos und was für eine wunderbare Geschichte wäre uns damit verlorengegangen?

Den Irrhain des von dem Nürnberger Juristen und Schriftsteller Georg Philipp Harsdörffer und dem Theologiestudenten Johann Klaj im Jahre 1644 als literarische Gesellschaft gegründeten Pegnesischen Blumenorden stellen die beiden Autorinnen Katrin Schuster und Elisabeth Donoughue in ihrem Beitrag „Auf Dichters Spuren“ vor. Am Rande von Gemüsefeldern am Kraftshof, nordwestlich von Nürnberg, stößt der Spaziergänger auf ein Tor mit der rätselhaften Inschrift „Irrhain“. Dahinter verbirgt sich eine Art verwunschener Park. Ein labyrinthischer Weg führt auf eine Lichtung mit verwitterten Steinplatten, die an Grabstätten erinnern, an anderer Stelle ragt ein Obelisk mit einer Büste hervor. Nur noch ahnen läßt dieser seltsame Ort, daß er einst einer Sprach- und Dichtergesellschaft bedeutende Inspirationsquelle und Treffpunkt war. In den 1990er Jahren teilweise restauriert und mit Gedenktafeln versehen, wird heute die Tradition des alljährlichen Irrhain-Festes wieder aufgegriffen. Als Biotop vor der Zerstörung geschützt, hat sich der Irrhain seither zum Kultur- und Naturdenkmal entwickelt.

Kontakt: Bayerisches Staatsministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst, Salvatorstr. 2, 80333 München.

www.stmwfk.bayern.de

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