© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/13 / 05. April 2013

Es wurde immer gefoltert
Ian Cobain greift mit seinem Werk „Cruel Britannia“ die britische Unrechtsgeschichte der jüngeren Zeit auf
Stefan Scheil

Die Sorge um seinen guten Ruf hat das britische Empire stets begleitet. Man verstand sich in London gerne als Kulturträger und weltweiter Verbreiter von Zivilisation, Anstand und Fairneß. Die Ausdehnung des eigenen Machtbereichs über praktisch den gesamten Erdball folgte demnach folgerichtig keinem Stufenplan zur Welteroberung, sondern einer Art Zwangsläufigkeit der kulturellen Überlegenheit über das Barbarentum anderer Länder und Kontinente. Und was derart auf der großen politischen Bühne galt, sollte sich im Kleinen fortsetzen. Es gehört nicht zum offiziellen britischen Selbstverständnis, sich an Unterlegenen zu vergreifen, zu foltern, oder „bei Nacht und Nebel“ Personen verschwinden zu lassen.

Daß dies auf beiden Ebenen eine recht dünne Fassade war, hinter der sich ein Imperium versteckte, das in seiner Geschichte vielfach internationale Verbrechen und solche gegen die Menschlichkeit begangen hat, konnte man bei etwas historischer Bildung immer wissen. Dennoch betritt Ian Cobain ein wenig Neuland, wenn er nun mit „Cruel Britannia“ die britische Foltergeschichte der jüngeren Zeit aufgreift.

Cobain ist Journalist und arbeitet für den Londoner Guardian. Zu seinem ersten, jetzt vorliegenden Buch hat er sich unter dem Eindruck der Ereignisse nach den New Yorker Anschlägen des 11. September 2001 entschlossen. Der Gegenterror, mit dem die USA weltweit die Verdächtigen überzogen, denen man Billigung oder aktive Unterstützung islamistischer Anschläge unterstellte, traf auch britische Staatsangehörige. Das zu diesem Zweck eingerichtete Lager Guantanamo kannte jeder.

Aber es gab noch mehr. Zwar dauerte es einige Jahre, aber schließlich wurden auch für die Öffentlichkeit die Umrisse eines Netzwerks von weiteren Geheimgefängnissen außerhalb des amerikanischen Staatsgebiets erkennbar. Dort wurde ohne jeden Rechtsschutz gehandelt und gefoltert, und dies, wie Cobain trotz aller Dementis des britischen Außenministeriums belegt, mit Wissen britischer Stellen eben auch an eigenen Staatsbürgern.

Bei dieser Erkenntnis bleibt Cobain aber nicht stehen. Er hat nach einer Vorgeschichte dieses Verhaltens gesucht und sie gefunden. Ob während des Zweiten Weltkriegs und nach Kriegsende, ob im Kalten Krieg oder in den Kolonialkonflikten, unter denen das britische Empire auseinanderfiel: es wurde immer gefoltert. Das gleiche galt für Nordirland oder eben auch für den Irak-Krieg nach 2003, ohne daß britische Stellen von amerikanischen zu Foltermaßnahmen genötigt worden wären.

Aus deutscher Sicht sind natürlich die Geheimgefängnisse von besonderem Interesse, die 1945 in der britischen Besatzungszone eingerichtet wurden. Ihre Existenz spielte für das Bild der Nachkriegszeit bisher praktisch keine Rolle. Mit Interesse nimmt man zunächst zur Kenntnis, daß in London bereits 1938 über Wege nachgedacht wurde, für den nächsten Krieg zu erwartende deutsche Gefangene auszuhorchen. Bereits im März 1939 wurde ein „Combined Services Detailed Interrogation Centre“ oder „CSDIC“ gegründet, das deutschsprachige Offiziere aller Waffengattungen und Richtungen zusammenführte. Das CSDIC arbeitete während des Krieges mit raffinierten wie mit brutalen Methoden an der Gewinnung von Informationen. Schließlich wurde auch zum Zweck der Strafverfolgung gefoltert.

Es war ebenfalls das CSDIC, das dann 1946 auch jenes „Befragungszentrum“ in Bad Nenndorf bei Hannover betrieb, dessen Existenz in den letzten Jahren ruchbar georden ist. Extremes Untergewicht durch systematische Aushungerung, Erfrierungen, Lungenentzündungen und die Spuren ungezählter Schläge kennzeichneten die Überlebenden der dortigen Befragungstortur, die über das Land verteilt in medizinische Behandlung gegeben wurden, um die Gesamtzahl zu verschleiern. Starb jemand, wurde er zu Tarnzwecken gelegentlich unter falschem Namen beerdigt und als britischer Toter gezählt.

Hinter diesen Methoden steckte System, wobei Cobain darauf achtet, die Täter möglichst präzise zu fassen. Natürlich konnten diese Vorgänge nur deshalb so unbemerkt bleiben, weil auch der Löwenanteil der britischen Dienststellen nicht von ihnen wußte. Immerhin deckt er aber einen Traditionsstrang auf, der sich von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis in den Irakkrieg nach 2003 zieht. Die Methoden, einen beliebigen Gefangenen zu zermürben und zu foltern, wurden dabei stetig verfeinert. Ziel war es unter anderem, bei den Delinquenten keine beweisbaren Spuren mehr zu hinterlassen.

Das CSDIC wurde auf diesem Weg mehrfach umbenannt und firmierte etwa im Irakkrieg schließlich als Joint Services Intelligence Organisation (JSIO). Cobain schreibt es trotz aller Spuren weniger dem hergebrachten System als dem Fehlen einer „klaren Doktrin“ zu, wenn man dort „in alte Traditionen“ zurückgefallen sei. Daran wird so viel richtig sein, daß die Ausübung unkontrollierter Gewalt von Personen über andere Personen immer wieder aus dem Ruder laufen wird. Wer sich für nichts verantworten muß, wird dazu neigen, unverantwortlich zu handeln.

Insgesamt bleibt ein beeindruckendes Bild zurück. Der „Westen“, Großbritannien eingeschlossen, war noch nie so moralisch einwandfrei, wie er sich selbst gern gegeben hat und wohl auch empfand. Der „Kampf gegen den Terror“ hat Löcher und Kratzer in diesem Bild hinterlassen und hinterläßt täglich neue, angesichts weiter offener rechtsfreier Räume und stetig fließender Nachrichten über weitere Geheimgefängnisse. Zusammen mit Cobains Schilderung der Vergangenheit gibt das in erster Linie Anlaß zum Nachdenken über mögliche Konsequenzen, wenn die Krise des Westens sich weiter verschärfen sollte. Aber schließlich hat man es ja nicht mit einem neuen Phänomen zu tun.

Ian Cobain: Cruel Britannia – A Secret History of Torture. Portobello Books, London 2012, broschiert, 345 Seiten,
16,95 Euro

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