© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/13 / 05. April 2013

Der Wohlfühlbauch
David Bainbridge zeigt uns, daß wir „unsere besten Jahre“ ohne Midlife-Krise genießen können
Baal Müller

Als Siebzehnjähriger konnte man sich kaum vorstellen, daß jenseits der Dreißig noch lebenswerte Jahrzehnte liegen – was man durch das Gefühl verdrängte, diese unendlich ferne Zeit ginge einen kaum etwas an –; plötzlich hat man die Vierzig überschritten und stellt fest, daß es einem doch gar nicht so schlecht geht. Eigentlich war die vielgepriesene Jugend eine Zeit der Fremdbestimmung – durch Eltern und andere Autoritäten, die Moden, denen wir uns blindlings unterwarfen, Triebe, die uns beutelten, und sodann die Kinder, die unsere Aufmerksamkeit verlangten –, mit fünfzig haben wir uns von all dem freier gemacht, etwas soziales und ökonomisches Prestige errungen und unsere Interessen besser kennengelernt.

Wer davon nicht überzeugt ist und sich über Zipperlein, schlechteren Sex, Falten und Bierbauch beklagt oder derartiges für die Zukunft befürchtet, sollte David Bainbridges „Wir Middle-Ager“ zur Hand nehmen: Er wird gut belehrt, und ob er dadurch auch getröstet wird, ist dann seine Sache. Energisch räumt der Autor – selbst ein „Middle-Ager“ – mit zahlreichen Vorurteilen auf: insbesondere mit der „Midlife-Krise“ und der jugendfixierten Vorstellung, ab Mitte Zwanzig ginge es nur noch bergab.

Wer zunächst meint, der Verfasser habe eben bislang Glück gehabt oder verbreite kommerziellen Zweckoptimismus, wird angenehm überrascht sein, daß er keines der üblichen Lifestyle-Bücher eines Wellness-Coachs in der Hand hat, sondern „a natural history“, wie der Untertitel der englischen Originalfassung, anders als der deutsche („Unsere besten Jahre“), zum Ausdruck bringt.

Der Verfasser, ein Zoologe und Veterinärmediziner, lehrt in Cambridge klinische Anatomie der Nutztiere, was sich ein wenig fern von unseren menschlichen Problemen mit dem Älterwerden anhört, tatsächlich aber für einen erfreulich faktenorientierten Zugang sorgt.

Allenfalls zu Beginn mag man über eine gewisse Dominanz genetischer und evolutionsbiologischer Betrachtungen verwundert sein, bald aber führen diese zu der gewichtigen Feststellung, daß der „Middle-Ager“ zu keiner Zeit wirklich alt war. Noch immer scheinen Menschen, die mit Statistiken nicht vertraut sind, zu glauben, „früher“ wäre man mit dreißig tot umgefallen; in Wirklichkeit aber lag die durchschnittlich so geringe Lebenserwartung früherer Zeiten an der hohen Kindersterblichkeit und nicht an vorzeitiger Vergreisung.

Besondere Bedeutung mißt der Autor der Tatsache zu, daß der Mensch zu 99,5 Prozent seiner biologischen Geschichte Jäger und Sammler gewesen ist, unsere kulturellen Maßstäbe aber von der agrarischen Lebensweise geprägt sind, die zwar viel mehr Menschen das Leben ermöglicht hat, in bezug auf die Gesundheit des einzelnen aber nicht unbedingt ein Segen war. Das extrem lange, im Tierreich so nicht vorkommende „Middle Age“ ist keinesfalls eine bloße Verfallszeit (deren „Luxus“ sich die Natur ohne Nutzen nicht geleistet hätte), sondern eine Plateauphase, in der sich seit Urzeiten die Vorzüge noch relativ guter körperlicher Verfassung mit besonderen – in keinem anderen Lebensabschnitt so hohen – kognitiven Gesamtleistungen verbinden.

Jugendliche können zwar schneller laufen, bedürfen aber beim Erwerb der zur Nahrungssuche bzw. für heutige Arbeit nötigen Fähigkeiten der „Middle- Ager“, die nicht nur über die pädagogischen Kompetenzen, sondern über die gesellschaftliche Macht und das kulturelle Gedächtnis verfügen. Auch heute noch definieren sich Junge und Alte darüber, was sie in den mittleren Jahren werden wollen bzw. gewesen sind.

Linear betrachtet, ist das „Middle- Age“ also keine Linie, die nach unten weist, sondern ein Berg mit einer breiten Kuppe – oder ein „Wohlfühlbauch“, denn die Statistiken besagen, daß wir uns im mittleren Alter bei weitem nicht so schlecht fühlen, wie es uns die Medien weismachen wollen. Zum Glück sind die wenigsten von uns Leistungssportler, die gegen das Entschwinden von Hundertstelsekunden ankämpfen.

Werden wir aber nicht doch dicker, schlapper und unattraktiver? Der Autor beschönigt dies nicht und beschreibt den biologischen Alterungsprozeß detailliert, wobei er auch – wohltuend unbeeinflußt von egalitärer Ideologie – auf die großen Unterschiede zwischen den Geschlechtern eingeht. So finden immerhin die meisten Veränderungen – Hormonausschüttungen hin oder her – in der Psyche statt, die wir, etwa durch die Lektüre dieses Buches, positiv beeinflussen können.

David Bainbridge: Wir Middle-Ager. Unsere besten Jahre. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2013, gebunden, 345 Seiten, 22,95 Euro

Foto: Windschnittiger „Middle-Ager“: Ein Berg mit einer breiten Kuppe

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