© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/13 / 12. April 2013

Existentialistisches Behelfsheim
Konservative Literaturkritik in der frühen Bundesrepublik: Vor hundert Jahren wurde der Schriftsteller Hans Egon Holthusen geboren
Felix Dirsch

Der Beobachter des gegenwärtigen Literatur- und Medienbetriebes kann sich kaum vorstellen, daß es in der Geschichte der Bundesrepublik Zeiten gab, in denen andere Kritiker vorherrschten als die seit Jahrzehnten omnipräsenten, von Joachim Kaiser über Hellmuth Karasek bis zur Inkarnation dieses Berufsstandes, Marcel Reich-Ranicki. Doch solche Phasen existierten. So übte sich der Journalist Friedrich Sieburg, in den 1950er Jahren FAZ-Mitarbeiter, fleißig in konservativer Meinungsmache und löste erhebliche Wirkungen aus. Die umtriebige Thea Dorn edierte einige Publikationen neu.

Sieburgs jüngerem Kollegen Hans Egon Holthusen ist bisher weniger Aufmerksamkeit zuteil geworden. Nach Kindheit und Jugendzeit in einem evangelischen Pfarrhaus trat der gebürtige Rendsburger bald nach der Machtergreifung Hitlers in SS und NSDAP ein, ohne dort merklich aktiv zu werden. Kurz vor Kriegsende bemühte er sich als Soldat, sinnlose Zerstörungen zu vermeiden.

In den 1950er Jahren konnte er als Gastprofessor in den USA und Leiter eines dortigen Goethe-Instituts reüssieren, was bei seiner Biographie keineswegs selbstverständlich erscheint. Mit Einwänden bezüglich seiner Vergangenheit ging er offensiv um. Mediales Echo rief die Kontroverse mit Jean Améry um seinen freiwilligen Eintritt in die SS hervor. Immerhin konnte er noch von 1968 bis 1974 einer so angesehenen Einrichtung wie der Bayerischen Akademie der Schönen Künste vorstehen. Aus der Berliner Akademie der Künste trat er in den achtziger Jahren aus, weil ihm deren Linkstrend unter dem Präsidenten Günter Grass mißfiel. Danach wurde es um Holthusen mehr und mehr ruhig. Von seinem Tod 1997 nahm die Öffentlichkeit kaum Notiz.

Aus Holthusens Œuvre ragen Prosatexte und Lyrisches hervor. Auch für den, der nicht mehr mit dem Nachkriegs-Existentialismus vertraut ist, ist das Pathos der Wahrheitssuche, das bei dem Dichter durchscheint, beeindruckend. So heißt es in „Phantasie über ein Frauenantlitz“: „Leben und Sterben, was soll’s? Wo ist in dem ganzen / Ungefähren Getue ein Kern von wirklicher Dauer?“ Besonders lesenswert ist auch sein Gedicht „Acht Variationen über Zeit und Tod“ (1948).

Mit Vorliebe publizierte er (neben Karl Krolow, Heinz Piontek und anderen) als Wortführer der sogenannten „Zwischengeneration“ im Merkur. Beflissene Vergangenheitsbewältiger haben in dieser Zeitschrift sogar eine „Literaturpolitik“ (Hanna Klessinger) ausgemacht, die diese Autoren angeblich zu verantworten hatten. Aus seinen Vorbildern, Rainer Maria Rilke und Thomas S. Eliot, hat er nie einen Hehl gemacht.

Als Kritiker wurde Holthusen ein noch größeres Echo zuteil, was nicht zuletzt die Essay-Sammlung „Der unbehauste Mensch“ aus dem Jahre 1951 zeigt. Ihr Erfolg beruht vornehmlich darauf, daß sie damals verbreitete pessimistische Stimmungslagen nicht nur in Verbindung mit Motiven der Literatur um die Jahrhundertwende bringt, sondern sogar mit so unterschiedlichen Phänomenen wie Psychoanalyse, Existentialismus und Marxismus. Selbst stand der promovierte Germanist dem christlich geprägten Existentialismus nahe. So sah er das Kernproblem der Epoche in der Alternative Gott oder das Nichts, Christentum oder Nihilismus. Es ist naheliegend, daß von diesem Lebensgefühl der Weg zu den großen literarischen Werken des frühen 20. Jahrhunderts führte, zu Rilkes „Duineser Elegien“ genauso wie James Joyce’ „Ulysses“. Nicht zu vergessen ist auch Eliots lyrisches Wunder „Das wüste Land“, das die Trockenheit und Leere der modernen Welt herausstellt, ihre schmutzige Gemeinheit wie frivole Verzweiflung.

Heute noch studierenswert sind Holthusens Gedanken zur „Überwindung des Nullpunkts“ nach der Kapitulation, denen in dem Buch „Der unbehauste Mensch“ ein eigenes, umfangreiches Kapitel eingeräumt wird. Es schließt mit den Worten, die „in die Zukunft weisenden Leistungen der jüngeren Generation“ ließen noch auf sich warten.

Daß ein erklecklicher Teil des bundesrepublikanischen Schreibens als „Literatur in der Schuldkolonie“ (Thorsten Hinz) einzustufen sein würde, war damals noch nicht absehbar. Jedoch hat Holthusen bereits früh Thomas Manns Versuche („Doktor Faustus“) zurückgewiesen, die deutsche Geschichte zur dämonisierten Schuldkolportage umzuschreiben.

Auch andere Schriften Holthusens lohnen eine Lektüre. Seine Studien zur modernen Literatur („Das Schöne und das Wahre“) erörtern am Beispiel prominenter Autoren der älteren Generation (Thomas S. Eliot, Gottfried Benn, Max Kommerell, George Bernanos und anderer) die althergebrachten Fragen von Form und Inhalt der Literatur, Leben und Kunst, Wahrheit und Dichtung. Eine 1967 herausgebrachte Sammlung von Texten („Plädoyer für den Einzelnen“) will ein Gegengewicht zur Politisierung und Soziologisierung der Literatur in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre bilden, indem der Verfasser den Menschen als „weltunmittelbares“, strikt persönliches Wesen herausstellt. Die kritische Rückschau auf literarisch Bedenkliches der 1980er Jahre („Vom Eigensinn der Literatur“) belegt seine Kenntnis von jüngeren Zeitgenossen wie Hans Magnus Enzensberger und Heinrich Böll.

Im veränderten Klima nach 1968 gehörte Mut dazu, sich gegen die vollständige Umfunktionierung des Literaturbetriebes zur politagitatorischen Schreibwerkstatt zu wenden. Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist Holthusens Auseinandersetzung mit dem Thema „Literatur und Terrorismus“, die vor allem in dem Band „Sartre in Stammheim“ stattfindet.

Noch heute besticht Holthusens Courage zum literarischen Anderssein, besonders in späteren Jahren. Zum Literaturpapst konnte er es unter bundesrepublikanischen Bedingungen nicht bringen. Immerhin waren die analytischen und essayistischen Fähigkeiten des äußerst produktiven und vielfach geehrten Schriftstellers so groß, daß sogar der prominente Kritikerkollege aus Frankfurt zu dessen 60. Geburtstag Anerkennung zollte und einräumte, viel von ihm gelernt zu haben. Es dürfte für ihn Befriedigung gewesen sein, nicht nur der Generation der Kriegsheimkehrer ein Gefühl für das vermittelt zu haben, was Literatur ist und bewirken will.

Foto: Hans Egon Holthusen (1913–1997): In der Nachkriegszeit hatte er eine erhebliche Wirkmacht

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