© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/13 / 12. April 2013

Jahrzehntelang gelogen
Vor siebzig Jahren: Meldungen über die von den Sowjets bei Katyn ermordeten polnischen Offiziere
Stefan Scheil

Im April 1943 wartete die deutsche Presse mit einer großangelegten Meldung auf. Unter den noch jungen Bäumen eines damals vor drei Jahren gepflanzten Waldes beim russischen Dorf Katyn bei Smolensk seien Massengräber gefunden worden. Es seien die Leichen jener polnischen Offiziere, die von der Roten Armee im Jahr 1939 gefangengenommen und offenbar im Frühjahr 1940 dann erschossen worden waren.

Am Ende wurden an dieser Stelle über viertausend Tote geborgen. Insgesamt hatten die sowjetischen Erschießungen an verschiedenen Orten über dreiundzwanzigtausend Todesopfer unter der „polnischen Bourgeoisie“ gefordert, als die man in Moskau das polnische Offizierskorps eingestuft hatte.

Damit war eine Nachricht in der Welt, um deren Wahrheitsgehalt und Bedeutung fast ein halbes Jahrhundert intensiv gekämpft wurde. Die ertappte UdSSR fürchtete angesichts von Katyn um ihr damals im Westen tadelloses Image als demokratischer Staat. Sie ließ umgehend dementieren. Zunächst wurde der Mord nur verbal den Deutschen in die Schuhe geschoben. Bald nach der Rückeroberung der Gegend setzte man dann eine eigene Kommission ein, die aus gefälschten Dokumenten und erfundenen Zeugenaussagen einen Beleg für diese Behauptung zurechtfrisierte.

Das Ergebnis schien so gelungen zu sein, daß mit seiner Hilfe nicht nur deutsche Soldaten in einem Minsker Schauprozeß als angebliche Katyn-Mörder verurteilt wurden, sondern das Material auch dem Nürnberger Nachkriegstribunal vorgelegt wurde. Obwohl man dort juristisch nicht durchdrang, übernahm immerhin die amerikanische Besatzungspresse die Falschmeldung vom deutschen Verbrechen in Katyn. Bis 1990 galt Katyn im damaligen Ostblock ausschließlich als deutsches Verbrechen. Wer etwas anderes sagte, wurde etwa in der DDR wegen „faschistischer Hetze“ verfolgt. Erst die Ära Gorbatschow beendete neben der Existenz der UdSSR auch diesen Teil ihrer Geschichtsfälschung.

Aus heutiger Sicht ist das Besondere an diesem Ort hauptsächlich sein vergleichsweise hoher Bekanntheitsgrad, der sich als Spätfolge der jahrzehntelangen Auseinandersetzung gehalten hat. Katyn kennt wenigstens unter den historisch Interessierten fast jeder. Für zahlreiche andere Orte gilt das nicht. Der Name Bykownia etwa wird nur den Eingeweihten etwas sagen. Auch dort ist es ein in der Nähe von Kiew eigens gepflanzter Wald, unter dem in diesem Fall wohl 130.000 Ermordete verscharrt wurden. Es waren vorwiegend Ukrainer, aber auch in diesem Wald fand man polnische Offiziere und Zivilisten. Dort tobt der Kampf unter den heutigen Verhältnissen nicht um die Täterfrage, wohl aber um die Deutungshoheit. Die Forderung des ukrainischen Präsidenten Juschtschenko: „Man sollte der Tragödie von Bykownia ebenso gedenken, wie man sich an Auschwitz, Buchenwald und Dachau erinnert“, trug ihm den Vorwurf der Relativierung des Holocaust ein.

Ähnliches gilt für Kuropaty, ein in Weißrußland liegender und ebenfalls zu Tarnzwecken neu angelegter Wald, unter dem bis zu zweihundertfünfzigtausend Ermordete vermutet werden, erschossen in den Jahren zwischen 1937 und 1941. Die exakte Zahl ist nicht bekannt. Genauere Nachforschungen sind unter den gegenwärtigen politischen Verhältnissen unerwünscht, gehört doch Weißrußlands heutiger Präsident Lukaschenko zu den letzten Aufrechten aus den Zeiten des Realsozialismus und hat seinerzeit als einziger weißrussischer Abgeordneter auch gegen die Auflösung der Sowjet-union gestimmt.

Wie die russische Historikerin Natalia Lebedeva und ihre Kollegen Anna Cienciala und Wojciech Materski in ihrer Forschungsarbeit an der US-Universität Yale „Katyn: A Crime Without Punishment“ (New Haven 2008) belegen, unterzeichneten bereits im März 1940 die vier Politbüromitglieder Josef Stalin, Kliment Woroschilow, Wjatscheslaw Molotow und Anastas Mikojan einen Beschluß des NKWD-Volkskommissars, Lawrenti Beria, die Liquidierung der gefangenen polnischen Offiziere als vermeintliche „geschworene Feinde der Sowjetmacht, haßerfüllt gegenüber der sowjetischen Ordnung“ durch Erschießen vorzunehmen. Das Originaldokument aus den Akten des sowjetischen Zentralkomitees wurde in einem von Stalin eingerichteten Sonderarchiv der KPdSU aufbewahrt, das – anders als die meisten sowjetischen Akten zu Katyn – 1993 unter dem russischen Präsidenten Boris Jelzin in einer kurzen Phase der Transparenz veröffentlicht wurde.

In der westlichen Presse gab und gibt es über diese Massengräber zwar gelegentlich Meldungen, einen großen Nachhall haben sie jedoch nicht hinterlassen. Die Erinnerung an die gewaltige Dimension stalinistischen Terrors hat im Zeitgeist keinen hohen Stellenwert. Obendrein enthielten selbst diese Pressedarstellungen auch immer noch einen gewissen Zug an Verharmlosung. Die Tageszeitung Die Welt sprach von Bykownia als dem „vermutlich größten Massengrab“ des Stalinismus.

Angesichts von 750.000 Erschossenen allein im Jahr 1937 wird man das bezweifeln müssen. Es wird noch weitere, bisher unentdeckte Massengräber unter den Wäldern der früheren UdSSR geben. Dafür spricht zudem die Statistik. In eben diesem Jahr 1937 förderte eine Bevölkerungszählung in der Sowjet-union statt der erwarteten 180 Millionen nur noch eine Einwohnerzahl von 162 Millionen zutage. Die verantwortlichen Demographen traf die Standardantwort des damaligen Systems: Sie wurden ebenfalls erschossen.

In diesem Stil ging es schon lange, mal gegen angebliche Regimefeinde, mal gegen ethnische Minderheiten. „Sag einem Tataren, Kalmücken oder Tschetschenen ‘1937’ – er wird bloß mit den Achseln zucken“, schrieb Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn im „Archipel Gulag“. Er fand auch für andere Vorgänge unvergeßliche und doch heute fast vergessene Worte: „Heutige Überlegungen über die Jahre 1918 bis 1920 bringen uns in Verlegenheit. Sind auch alle jene zu den Gefängnisströmen zuzurechnen, die noch vor der Gefängniszelle umgelegt wurden? Und in welche Rubrik mit denen, die von den Kombeds (Komitees der Dorfarmut) an der Scheunenwand des Dorfsowjet oder in den Hinterhöfen liquidiert wurden? Und die Teilnehmer an den zuhauf entlarvten Verschwörungen in den Provinzen, für jedes Gouvernement eine eigene (...) Haben sie auch nur mit einem Fuß das Inselreich (des Gulag) betreten, oder waren sie nicht mehr dazu gekommen?“

Der aufgedeckte Fall Katyn kratzte nur die Oberfläche. Auch deshalb hinterließen die deutschen Pressemeldungen darüber im Jahr 1943 kaum den erhofften außenpolitischen Eindruck. Die gegnerische Kriegskoalition konnte so nicht gesprengt werden. Aus einem im September 2012 freigegebenen Dokument des Nationalarchivs der USA geht sogar hervor, daß die Vereinigten Staaten schon frühzeitig über die sowjetische Urheberschaft des Massakers von Katyn wußten. Demnach kam eine Kommission des US-Repräsentantenhauses bereits 1952 zu der Erkenntnis, daß das Massaker von der UdSSR begangen wurde. Auch stellte die Kommission fest, daß bereits 1943 „eindeutige Warnsignale“ auf eine sowjetische Urheberschaft hindeuteten. So sandten US-Kriegsgefangene codierte Botschaften nach Washington, die zwingend auf eine sowjetische Tat schließen ließen. US-Medien werten dies als Indiz, Roosevelt habe mit Rücksicht auf seinen Verbündeten Stalin Fakten unter Verschluß gehalten.

Allenfalls das sowjetisch-polnische Verhältnis wurde durch die Nachricht über die ermordeten Offiziere getrübt, aber dies war im Gesamtszenario naturgemäß nicht wesentlich oder gar kriegsentscheidend. Auch zur innerdeutschen Mobilisierung taugte das Thema nur begrenzt für ein Regime, das sich voller Mißtrauen immer stärker gegen die eigene Bevölkerung wendete. Längst hatte es Eigenschaften des so verhaßt bekämpften sowjetischen Gegners angenommen und seine eigenen Katyns geschaffen.

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