© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/13 / 12. April 2013

Als Facebook noch eine Orwellsche Vision war
Nach Hunderten Verfassungsbeschwerden stoppte Karlsruhe vor dreißig Jahren vorläufig die Volkszählung in der Bundesrepublik
Mario Kandil

Laut Volkszählungsgesetz sollte im Frühjahr vor dreißig Jahren in der alten Bundesrepublik in Form einer „Totalerhebung“ eine Volkszählung stattfinden. Doch das Bundesverfassungsgericht setzte diese, die für den 27. April 1983 vorgesehen war, durch Erlaß einer einstweiligen Anordnung aus. Damit hatte eine linke Protestkampagne einen wichtigen Etappensieg errungen. Hunderttausende von Bundesbürgern sahen den Überwachungsstaat à la Orwell heraufziehen und reichten an die 500 Verfassungsbeschwerden ein. Kritisiert wurde, daß die Veranstalter es versäumt hatten, die Datenschutzbeauftragten von Bund und Ländern zu konsultieren, da man beabsichtigte, neben der vollständigen Kopfzählung auch weitere Angaben zu erheben.

Kontaktadressen von Boykotteuren der Volkszählung wurden in der links-alternativen taz als Protestermutigung abgedruckt. Doch nicht nur Randgruppen lehnten die geplante Zählung ab, sondern auch bei Bürger jenseits des linken Spektrums regte sich Unmut. Während bereits Unionspolitiker wie Franz Josef Strauß und Uwe Barschel eine Verschiebung des Zensus empfahlen, lehnten von der SPD Heide Simonis und Freimut Duve – sie hatten im Bundestag noch dafür gestimmt – ihn ab und wollten keine Auskünfte mehr erteilen.

Die 371 Millionen Mark teure Zählung kam zunächst nicht zustande. Denn am 12. April 1983 gab es vor dem Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts eine mündliche Verhandlung, und tags darauf setzten die Verfassungsrichter durch einstweilige Anordnung den Zensus bis zu ihrer Entscheidung über die Verfassungsbeschwerden aus.

Die Beschwerdeführer prangerten vor dem Bundesverfassungsgericht eine Vielzahl von Mängeln an. Einmal sahen sie durch die mit Bußgelddrohung bewehrte Zwangsbefragung das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit sowie auf freie Meinungsäußerung verletzt. Des weiteren hielten sie den vom Grundgesetz verbrieften Rechtsweg dadurch für abgeschnitten, daß gemäß Volkszählungsgesetz Widerspruch und Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben sollten. Zu den Mängeln des Zensus zählte nach Ansicht der Gegner auch, daß manche der Fragen sowie die maschinenlesbare achtstellige Kennummer, die auf jeder Seite des Fragebogens abgedruckt war, nicht durch das Gesetz gedeckt waren. Schließlich wurde moniert, daß die durch die Zählung aktualisierten Datensätze von den Einwohnermeldeämtern als Personenkennzeichen verwendet werden konnten: Das hielten die Gegner für verfassungswidrig, denn so war es möglich, Angaben aus diversen Dateien zu echten Persönlichkeitsprofilen zu kombinieren.

Rechtlich fragwürdig war der Verbund von Daten bei der Volkszählung aber auch deswegen, weil das Volkszählungsgesetz vorschrieb, daß „aus diesen Angaben gewonnene Erkenntnisse“ nicht „zu Maßnahmen gegen den einzelnen Auskunftspflichtigen verwendet“ werden dürften. Und doch: Wer beispielsweise eine Zweitwohnung auf dem Land als Hauptwohnsitz ausgab, um an der Prämie für die Kfz-Versicherung zu sparen, oder in West-Berlin ein Zimmer angemietet hatte, um dem Wehrdienst zu entgehen, bekam nun ernsthafte Probleme.

Gegen die „Datengier von Technokraten“ (Die Zeit) stellten die Kritiker der Volkszählung häufig Witz und Phantasie. Die meisten Initiativen propagierten ganz offen den Boykott – obwohl das Statistikgesetz jeden mit bis zu 10.000 Mark Geldbuße bedrohte, der „nicht richtig, nicht vollständig oder nicht rechtzeitig“ Auskunft gab. Die Furcht vor saftigen Strafen versuchten Juristen durch den Hinweis zu mildern, daß nach dem Gebot der Verhältnismäßigkeit Verweigerung wohl „bloß“ mit wenigen hundert Mark Strafe geahndet werde. Oder gar nicht, wenn nur ausreichend viele Leute mitmachten, um Behörden und Justiz durch Masseneinspruch zu lähmen.

Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe untersagte mit seiner Entscheidung vom 13. April 1983 nicht die Volkszählung oder die Datenerfassung an sich. Es monierte nur die fehlende Sicherheit, daß die Daten wirklich anonym erhoben würden. Die geplante Volkszählung fand schließlich 1987 in veränderter Form doch statt. Und in unserer Gegenwart ist von der 1983er Geburtsstunde des „Rechts auf informationelle Selbstbestimmung“ (Michael Reissenberger im Deutschlandfunk) nicht viel übrig.

Nach zwei weiteren mündlichen Verhandlungen stellten die Karlsruher Richter im Urteil vom 15. Dezember 1983 fest, das Volkszählungsgesetz greife erheblich und zudem ungerechtfertigt in die Grundrechte des Einzelnen ein. Die entsprechenden Vorschriften erklärte es für nichtig und das ganze Gesetz für verfassungswidrig, da das Recht auf informationelle Selbstbestimmung verletzend. Dieses leitete das Gericht aus dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und auf Unantastbarkeit der Menschenwürde ab.

Entspricht das Urteil von 1983 auch heute noch der Realität im Facebook-Zeitalter? Jedenfalls ist aus dem zivilen Ungehorsam von damals eine immer größere Bereitschaft der Deutschen geworden, sich zu „gläsernen Bürgern“ machen zu lassen. Ist es das „Schweigen der glücklichen Sklaven“ (Richard Melisch), das hier greifbar zu werden scheint?

Foto: Boykottaufruf der Volkszählungsgegner, Hannover 1983: Gegen die „Datengier von Technokraten“

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