© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/13 / 12. April 2013

Der Flaneur
Der richtige Zauberspruch
Paul Leonhard

Der Himmel ist grau. Noch immer tragen die Menschen lange, dunkle Wintermäntel, Mützen, Handschuhe. Sie haben die Hände tief in den Manteltaschen verborgen. Die Schultern sind hochgezogen. Es ist seit Monaten kalt, häßlich. Ich stehe am Fenster und schaue auf den Platz. Trotzig deklamiere ich: „Vom Eise befreit sind Strom und Bäche/Durch des Frühlings holden, belebenden Blick.“ Vom Walmdach des Hauses gegenüber grüßt leuchtendes Weiß. Mehrere Quadratmeter Schnee liegen hier noch auf der Schattenseite. Dasselbe in Grau bietet der Bordstein. „Der alte Winter, in seiner Schwäche,/ Zog sich in rauhe Berge zurück.“ Die Tür geht auf.

Ich höre meinen Sohn ins Zimmer kommen. „Papa“, setzt er an. Ich drehe mich nicht um. „Ohnmächtige Schauer körnigen Eises.“ Fünfzehn lange Sekunden hört er sich schweigend an, wie ich Goethes „Osterspaziergang“ zitiere. An die vierzehn Tage nach dem Fest! Ich spüre förmlich, wie er auf die ihm eigene Art den Kopf schiefgelegt hat. Dann höre ich wieder die Tür. „Papa spinnt“, sagt der Kleine zu seiner Mutter. „Aber die Sonne duldet kein Weißes.“

Irgendwas muß man ja tun, gegen dieses monatelange Grau. Ich schaue auf die beiden Tulpen, rot und gelb, die meine Frau auf den Tisch gestellt hat. Dann setze ich mich an den Computer, versinke in der Welt des Internets. Stichwort Frühling. Plötzlich steht mein Sohn wieder vor mir. Er trägt seine Übergangsjacke. „Papa, schau mal, der Himmel ist blau.“ Begeistert zeigt er aus dem Fenster. Tatsächlich, weggeweht ist das Grau. Weiße Wolken ziehen. Ein Wirt holt schnell Gartenstühle nach draußen. Die Spaziergänger haben die Mäntel aufgeknöpft, recken die Gesichter in die Sonne. „Aus dem hohlen finstern Tor/Dringt ein buntes Gewimmel hervor.“

Meine Frau steht auch schon ausgehbereit da und zitiert den Schluß: „Zufrieden jauchzet groß und klein:/Hier bin ich Mensch, hier darf ichs sein!“ „Und jetzt komm endlich, sonst ist die Sonne wieder weg.“ „Siehst du“, sage ich fröhlich zu meinem Sohn. „Man muß nur den richtigen Zauberspruch kennen.“

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