© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/13 / 19. April 2013

„Eher gefühlt als real“
Integration: Eine Studie zur Zuwanderung aus EU-Staaten nach Deutschland will von der Armutseinwanderung nichts wissen
Lion Edler

Seine Frustration konnte Rüdiger Frohn kaum deutlicher ausdrücken. Die Diskussion über die Europäische Union sei „von Vorurteilen, Chauvinismus, Populismus und maßlosen Übertreibungen“ geprägt, schimpft der Kuratoriumsvorsitzende des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration. Dem begegne man jedoch mit „aufklärerischem Geist“. Schließlich bekenne sich der Sachverständigenrat zu der Kampagne „Ich will Europa“.

Kein Wunder also, daß das in der vergangenen Woche von dem Gremium in Berlin vorgestellte Jahresgutachten über die EU-Freizügigkeit überwiegend positive Ergebnisse  präsentiert. So weist die Studie darauf hin, daß unter den seit 2004 nach Deutschland zugewanderten EU-Bürgern zwischen 25 und 44 Jahren der Anteil Hochqualifizierter größer sei als unter den Einheimischen. Der Trend, daß Mittel- und Hochqualifizierte Deutschland verließen und zugleich Geringqualifzierte einwanderten, sei gestoppt; außerdem seien EU-Zuwanderer durchschnittlich zehn Jahre jünger als die einheimische Bevölkerung. Daraus schlußfolgert der Sachverständigenrat, daß dies widerlege, daß die EU-Erweiterung „Sozialtourismus“, also Armutseinwanderung, fördert. Dieser finde „eher gefühlt als real“ statt, so die Vorsitzende des Sachverständigenrates, Christine Langenfeld, bei der Vorstellung des Gutachtens. Zugleich leisteten besonders Universitäten einen Beitrag gegen den Fachkräftemangel, heißt es in dem Gutachten. Allerdings seien diese von Bund und Ländern noch nicht mit ausreichenden Finanzen ausgestattet, um ihrer neuen zuwanderungspolitischen Rolle gerecht zu werden.

Daneben präsentiert das Gutachten die Ergebnisse einer Befragung von rund 2.200 Einheimischen und EU-Zuwanderern. Danach profitiert Deutschland für 61,7 Prozent der befragten Deutschen von der EU-Zuwanderung mehr als andere Staaten („mit Migrationshintergrund“: 48,1 Prozent), 19,4 Prozent sehen Deutschland „genauso wie andere Staaten“ profitieren („mit Migrationshintergrund“: 30,9 Prozent). Für 18,9 Prozent der befragten Einheimischen profitiert Deutschland „weniger als andere Staaten“ (Ausländer: 21 Prozent“). Auch die „Identifikation als Europäer“ war bei Befragten „ohne Migrationshintergrund“ überwiegend „stark“ (43,1 Prozent) oder „sehr stark“ (11,1 Prozent) ausgeprägt. Ähnliches gilt für Befragte mit „EU-Migrationshintergrund“ (stark: 43,9 Prozent, sehr stark: 33,1 Prozent), sowie mit „Nicht-EU-Migrationshintergrund“ (stark: 35,7 Prozent, sehr stark: 14,5 Prozent).

Doch die Autoren unterscheiden offenbar nicht zwischen „Europa“ und „Europäische Union“, denn aus der starken „Identifikation als Europäer“ schlußfolgert man: „Der vielzitierte Vorwurf, Europa sei ein seelenloses Kunstgebilde, geschaffen von Eliten und Bürokraten und ohne Bedeutung für die Menschen, ist falsch.“ Vielmehr sei – wie die Umfrage zeige – „Europa im Denken und auch Handeln der Menschen angekommen.“ Zudem sind nach der Studie über 70 Prozent aller Befragten der Ansicht, daß neu zugewanderten Franzosen, Polen und Türken bei Arbeitslosigkeit Sozialleistungen gewährt werden sollten.

Einwanderung
statt Ausbildung

Sorgen bereitet dem Gremium die Staatsschuldenkrise in EU-Staaten mit schwacher Wirtschaftsleistung sowie das nach Ansicht der Studie wachsende Wohlstandsgefälle innerhalb der EU, was „zu einer ‘Sozialtransfermigration’ führen könnte“. Eine weitere Öffnung sozialer Sicherungssysteme sei daher „mit Bedacht und Vorsicht vorzunehmen, um nicht am Ende die Zustimmung zum Europaprojekt insgesamt zu riskieren“.

Die kritischste Frage bei der Vorstellung der Studie kam von einem Journalisten der Deutsch-Türkischen Nachrichten. Er verstehe nicht, warum man wegen des sogenannten Fachkräftemangels in Deutschland auf Einwanderer setze, anstatt selbst ausreichend Fachkräfte auszubilden. Dies werde weder von der Mehrheit der „türkischen Community“, noch von der deutschen Bevölkerung verstanden. Mit dieser Frage des Journalisten hatte auf der Veranstaltung offenbar niemand gerechnet: Allgemeines Raunen, Murmeln und verständnislose Blicke waren die Reaktionen.

Die Antwort des Sachverständigen-rates fiel denn auch entsprechend knapp aus. Der Bochumer Wirtschaftswissenschaftler Thomas Bauer verwies schmallippig auf die sich zuspitzende demographische Krise in Deutschland.

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