© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/13 / 19. April 2013

Die neuen Römer am Jordan
Impressionen von einer Reise nach Israel: In der Woche nach Ostern besuchte JF-Chefredakteur Dieter Stein das Heilige Land
Dieter Stein

Warum bist du eigentlich nach Israel gefahren? Nach meiner Rückkehr von einer fünftägigen Reise durch das Heilige Land war ich überrascht, wie oft ich diese Frage gestellt bekam. Ganz einfach: Ich war noch nie dort gewesen, der Konflikt im Nahen Osten beschäftigt Journalisten jede Woche, und ich wollte mir ein eigenes Bild machen. Wie lebt es sich in einem Land, das sich in permanenter Konfliktsituation mit seinen Nachbarn befindet, das seit einigen Jahren sogar eine Schutzmauer errichtet, die höher ist als die einstige Berliner Mauer, weil es keinen anderen Weg mehr sieht, sich vor Angriffen zu schützen? Wie leben die Bürger in Sderot nahe am Gaza-Streifen (siehe ausführliche Reportage auf Seite 12), die regelmäßig mit Raketen beschossen werden? Wie sieht der Alltag in den jüdischen Siedlungen des besetzten Westjordanlandes aus? Und wie wiederum auf seiten der Palästinenser?

Auf dieser Reise begegnete ich auch dem geheimnisvollen Flecken Erde, in dem das christliche Abendland wurzelt. Hier ist die Wiege der monotheistischen Religionen, zuvorderst der jüdischen und das durch den gekreuzigten Jesus von Nazareth hervorgebrachte Christentum. Wie es zur kulturell-religiösen Mutation eines Seitenstranges zum Islam unter dem Propheten Mohammed kam, darüber streiten sich bis heute die Gelehrten.

An der Wiege dieser Religionen liegt Jerusalem. Hier verschlingen sich die Stränge zum unauflöslichen Gordischen Knoten. Es ist eine Stadt, die immer wieder zum Zankapfel und archimedischen Punkt von kollidierenden religiösen und politischen Interessen wird, die weit über die Region hinausreichen und den Nahostkonflikt zu einem Weltkrieg eskalieren lassen könnten.

Die Jerusalemer Altstadt versinnbildlicht den Begriff „Geschichte“ mit ihren archäologisch herausgearbeiteten Schichten aus jüdischer, römischer, osmanischer Periode. Eifrig legen die Archäologen noch immer Unbekanntes frei, und es wird deutlich, wie bedeutend diese weit zurückreichenden Zeugnisse jüdischer Besiedlung für die historische Legitimation des Staates Israel sind. Außerhalb der aus dem Osmanischen Reich stammenden imposanten Stadtmauer hat man Reste der bis zu 3.000 Jahre alten Davidstadt freigelegt. Uns wird erklärt, die Palästinenser hätten wiederum bewußt an diesem Ort eine Siedlung gebaut, um diese Stelle symbolisch für sich einzunehmen. Überall Spurensuche, das Schürfen nach Fundamenten.

Wir treffen in einem Vorort von Jerusalem den israelischen Militärhistoriker Martin van Creveld, der auch regelmäßig für diese Zeitung schreibt. Mit seiner Forderung, die jüdischen Siedlungen in der Westbank vollständig zu räumen, um den schwelenden Konflikt mit den Palästinensern zu lösen („Rückzug jetzt“, JF 13/13), vertritt er eine Minderheitenposition. Später befahren wir einige Siedlungen, und ich gewinne selbst den Eindruck, daß ein Abzug nur schwer vorstellbar ist: Die Siedlungen haben keinen provisorischen Charakter, sondern sind ausgebaute Dörfer und Kleinstädte mit allen sozialen Einrichtungen, die auf Dauer angelegt sind. Sie ähneln dem Berliner „Speckgürtel“.

Mit einem öffentlichen Bus durchfahren wir von Jerusalem aus den Checkpoint in die Zone A, die zu den für Israelis gesperrten und der palästinensischen Autonomieverwaltung unterstellten Gebieten gehört. Zuvor passieren wir die entlang der Straße errichteten haushohen Betonsperranlagen, die Steinwürfe auf Autos abwehren sollen.

Wir sind zu Gast bei palästinensischen Christen in Bethlehem. Vor Jahren war die Geburtsstadt Jesu noch mehrheitlich von Christen bewohnt. Jetzt drohen sie zur Minderheit zu werden. In den letzten Jahren haben sich die Bevölkerungsteile durch kontinuierliche Auswanderung der Christen sowie den Geburtenüberschuß der moslemischen Palästinenser verschoben. Der evangelikale palästinensische Pastor, mit dem wir sprechen, will sich zu politischen Fragen des Konfliktes mit Israel nicht äußern. Jesus sei die Lösung, meint er. Zwei Studenten werden deutlicher. Einer rollt eine detaillierte Karte des besetzten Gebietes aus und weist auf die durch Kontrollzonen der israelischen Armee zersplitterte Selbstverwaltung der Palästinenser hin.

Wir fragen den Pastor, was er mache, wenn ein Moslem zum Christentum konvertieren und seiner Gemeinde beitreten wolle. „That’s a problem“, meint er. Warum? Die Familie des Konvertiten würde diesen wahrscheinlich umbringen und „die Kirche abfackeln“. Ein Konvertit könne sich höchstens einer der Untergrundkirchen anschließen und versuchen, unerkannt zu bleiben. Offenbar haben christliche Palästinenser zwei Besatzungsarmeen: die tatsächlich sichtbare, israelische, und eine unsichtbare, islamische. Ich will wissen, ob für die christlichen Palästinenser – so sehr die Sperrmauer um Bethlehem unerträglich sei – die Präsenz der israelischen Armee auch ein Schutz sei. Ihnen stehe doch der Exodus der Christen in Syrien und anderen arabischen Staaten vor Augen, in denen derzeit „Demokratie“ einkehre, tatsächlich aber Islamisten das Ruder übernähmen. Die Frage bleibt unbeantwortet.

Mehreren Israelis stelle ich die Frage, wo das Geheimnis des beeindruckenden jüdischen Geburtenüberschusses läge. Es sind nicht die kinderreichen Orthodoxen allein (im Schnitt über fünf Kinder pro Frau), die dafür sorgen, daß in Israel statistisch drei Kinder pro Frau geboren werden. Eine Frau über vierzig, unverheiratet und ohne Kinder sei die absolute Ausnahme. Heiraten und Kinderkriegen ist in Israel kein Thema, sondern pure Selbstverständlichkeit. Überbordende staatliche Fürsorge und Rundumversorgung mit Betreuungseinrichtungen kennen Israelis nicht, die meisten Frauen seien sogar gezwungen, schon nach drei Monaten wieder arbeiten zu gehen. Stattdessen springen viele Großeltern ein. Die Familie als harter Kern eines ums Überleben kämpfenden Gemeinwesens – in Israel selbstverständlicher Teil des Common sense.

Mit Martin van Creveld besuchen wir die antike Festung Massada am Toten Meer. Jerusalem liegt 900 Meter über, das Tote Meer 400 Meter unter dem Meeresspiegel. Die Festung Massada, einst von König Herodes gebaut, wurde 70 nach Christus zum letzten Zufluchtsort jüdischer Aufständischer gegen die römische Besatzung. Die Belagerung und Erstürmung der Festung durch die Römer war eine logistische Meisterleistung; der Untergang der Verteidiger nach dem Fall der Festung durch kollektiven Selbstmord ist legendär. Die jüdischen Kämpfer, die eher mit ihren Frauen und Kindern freiwillig in den Tod gingen, als sich den Siegern als Sklaven auszuliefern, wurden für die israelische Armee zum Mythos. Bis vor einigen Jahren wurden auf der Festung Rekruten mit dem Leitmotiv „Massada darf nie wieder fallen“ vereidigt. Inzwischen gilt der Satz als zu kriegerisch, und der Massada-Mythos gerät in den Hintergrund.

Die Gründung und Etablierung dieser „jungen Nation“ fasziniert – unabhängig von der Frage, wie man die Ende des 19. Jahrhunderts  auf dem Zionistenkongreß entwickelte Idee eines Judenstaates, die Wiederbesiedlung und Rückeroberung Israels durch Juden aus aller Welt historisch oder völkerrechtlich bewertet. Beeindruckend ist, wie es gelingen konnte, jüdische Zuwanderer aus aller Herren Länder, einer in Jahrhunderten zerrissenen Diaspora, Träger Dutzender unterschiedlicher Muttersprachen auf das Neuhebräisch einzuschwören und diese Sprache der neuen Nation durchzusetzen.

Vielen Europäern, die das postnationale Zeitalter eingeläutet sehen, muß auch aus diesem Grund die Idee des jüdisch-israelischen Nationalstaates mit seinem strengen Abstammungsprinzip als Provokation erscheinen. Überhaupt ist die kuriose Ambivalenz zu vermerken zwischen einem weltweit in der Diaspora lebenden, vorwiegend liberal-kosmopolitisch wirkenden Judentum und dem Staat Israel, der zum Ingriff eines exklusiven Nationalstaates wird, der sich auf eine „multikulturelle“ Transformation nicht einlassen wird.

Abschlußbesuch in der jüdischen Siedlung Schaarei Tikva zwischen Tel Aviv und Jerusalem in den besetzten Gebieten. Der Bürgermeister empfängt uns und es kommt der Distriktgouverneur von Samaria, dem nördlichen Teil der Westbank, dazu. Wieder geht es um den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern. Ein junger Mitarbeiter des Gouverneurs verkündet überschwenglich: „Wir sehen uns als Vorposten des freien Westens gegen die islamische Welt.“ Er scheint öfter Gesprächspartner zu haben, die empfänglich sind für diese Parole. Ob er das wirklich ernst meine, frage ich. Ihm müsse doch klar sein, daß damit der lokale Konflikt zwischen jüdischen Israelis und palästinensischen Arabern zum potentiellen Weltkrieg stilisiert werde. Er rudert erstaunt zurück.

Auf der anderen Seite gewinne ich bei der Reise den Eindruck, daß es für die politische Lösung des Konfliktes auch an der Existenz eines palästinensischen Völkerrechtssubjektes (nach europäischem Verständnis) mangelt. Daß das „palästinensische Volk“ in der Realität in diverse arabische Fraktionen, Clans, Parteien zerfällt. Daß hinter ihm wiederum konkurrierende islamistische Organisationen und arabische Staaten stehen, die aus unterschiedlichen Motiven ein Ziel eint: Den Konflikt am Leben zu halten und gerade nicht zu lösen. So wirken auf Israel und den Nahen Osten viele Kräfte, Interessen und Einflüsse, aus den USA, Europa, den arabischen Staaten.

Der desillusionierende Eindruck, den ich mitnehme: Es gibt aus der jetzigen Lage keine einfache Lösung, wie wir es uns in Europa vorstellen. Israel ist aufgrund seiner militärischen Stärke, als Atommacht, aber auch aufgrund seiner wirtschaftlichen Entwicklung der alleinige Hegemon des Nahen Ostens, im Rücken die Supermacht Amerika. Um Israel herum gruppieren sich arabische Staaten, die teils brutale Despotien oder im Zerfall begriffene, ethnisch-religiös heterogene Kunststaaten sind, Relikte der Kolonialzeit. Daß die Palästinenser einen überlebensfähigen, eigenständigen Staat gründen können, ist kaum vorstellbar. Israel andererseits wird langfristig (van Creveld: „Die Zeit läuft davon!“) den jetzigen Zustand kaum konservieren können, gerade die eigene ökonomisch-militärische Stärke könnte sich in ihrer Asymmetrie als Schwäche herausstellen. Wie einst die Römer könnten sie an einem stolzen und widerständigen Volk scheitern.

 

Streitpunkt Palästina

Gemäß dem Oslo-Vertrag zwischen Israel und der PLO von 1994/95 sollte auf dem Gebiet der Westbank und dem Gaza-Streifen ein palästinensischer Staat entstehen. Stattdessen besteht die Zoneneinteilung der Westbank (siehe Karte), im Oslo-Vertrag als Übergangslösung vorgesehen, noch heute. Zusätzlich sind die Palästinenser gespalten: Während Gaza seit 2007 von der  Hamas kontrolliert wird, herrscht die Fatah von Palästinenserpräsident Abu Mazen über die Zone A in der Westbank, die hauptsächlich die größeren Städte umfaßt.  In der Zone B teilen sich Abu Mazens Polizeitruppen mit Israel die Kontrolle. Neben den jüdischen Siedlungen, die einen Palästinenserstaat derzeit unmöglich machen, kontrolliert Israel zudem die Grenze zu Jordanien, das Jordantal und weitere strategisch wichtige Gebiete (Zone C). Fatah und Hamas konnten sich bisher nicht auf gemeinsame Wahlen verständigen. 

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