© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/13 / 19. April 2013

„Wir haben ein Recht auf die Wahrheit“
Drei Jahre nach dem Tod des polnischen Staatspräsidenten bei einer Flugzeugkatastrophe: Erinnerung, Trauer und Fragen
Christian Rudolf

Ihre Meinung sagt sie direkt heraus. „Aber klar war das ein Anschlag.“ Die brünette Frau bahnt sich ihren Weg über den engen Bürgersteig im Stadtzentrum von Warschau. Sie steckt im Thema drin. „Wissen Sie: Daß alle 96 gleich tot gewesen sein sollen, das frappiert mich am meisten.“ Ihr knapp dreijähriger Sohn ist einer von der lebhaften Sorte. Er zieht seine Mutter an der Hand, quengelt. „Ich meine, gestern kam Macierewicz und sprach davon, er hätte Beweise, daß drei Personen die Katastrophe zunächst überlebt hätten.“ Antoni Macierewicz ist charismatischer Chef der Gruppe von Parlamentsabgeordneten der größten Oppositionspartei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS), welche die Ursachen des Absturzes von Smolensk vor drei Jahren aufklären will. „Entschuldigen Sie, wir müssen weiter.“

„Ob ich an die offzielle Version der Absturzursache glaube? Aber woher! Nach diesen Machenschaften! Was allerdings Jarosław Kaczyński betrifft, das sind zwei verschiedene Sachen.“ Der stämmige Mann mittleren Alters ist kein Freund der PiS, dessen Vorsitzender Kaczyński ist. In Begleitung seiner Frau ist er auf dem Weg zur Arbeit. Obwohl sie an den Feierlichkeiten nicht teilnehmen, ist dieser 10. April für beide kein Datum wie jedes andere. „Natürlich erinnern wir uns.“

Erinnerung. Wenn dieser Tag eine Überschrift braucht, dann diese. In allen Städten des Landes versammeln sich Menschen, um der Tragödie von vor drei Jahren zu gedenken. Und sich der Gemeinschaft mit Gleichgesinnten zu vergewissern. Während die Regierung in einem modernen Kirchbau am Stadtrand eher bescheiden den zentralen Gedenk­akt begeht, läuft die nationalkonservative Opposition auf der symbolträchtigen Hauptstraße Krakauer Vorstadt im Zentrum der polnischen Hauptstadt zur Hochform auf. Die Flaniermeile in der historischen Innenstadt ist nicht irgendeine Straße: Sie ist Teil des Königsweges und führt auf das in den siebziger Jahren wiederaufgebaute Warschauer Stadtschloß zu. Hier schlägt das Herz der Nation, hier durchdringen sich Geschichte und Gegenwart zu einem Mythos. Viele sind hier durchgezogen: Die Besatzungstruppen aus aller Herren Länder; Zar Peter der Große, Napoleon und Hitler, die polnischen Aufständischen gegen die Moskowiter 1863 und gegen die Nazis 1944; die Krakauer Vorstadt sah Papst Johannes Paul II. auf seiner ersten Reise nach Polen 1979, von seinen Landsleuten in einem Triumphzug ohnegleichen empfangen. Und hier erwiesen im April 2010 Hunderttausende dem toten Präsidentenehepaar die letzte Ehre (JF 17/10).

Heute sind sie alle hierhergekommen, vor den klassizistischen Amtssitz des Staatsoberhaupts, in dem der achtjährige Chopin 1818 sein erstes öffentliches Konzert gab: die Anhänger der Partei des Präsidenten und seines Bruders; die, die überzeugt sind, daß der Absturz der Tupolew ein Anschlag war und die Strippenzieher in der gegenwärtigen Regierung wähnen; das selbstbewußte, nationalgesinnte Warschauer Bürgertum; die durch die hohe Arbeitslosigkeit und den Linkskurs der Regierung von Ministerpräsident Donald Tusk (PO) Erniedrigten und Beleidigten; diejenigen, die noch in der Gewerkschaft „Solidarität“ um ein freies Polen gekämpft haben und das Land auf keinem guten Weg sehen; die Leser oppositioneller, unabhängiger Zeitungen, allen voran der Gazeta Polska; und die gläubigen Katholiken, für die Polen schon immer der leidende „Christus der Völker“ war und in Smolensk bei einem weiteren Opfergang sein Blut vergoß. Die Grenzen zwischen allen Gruppen sind so fließend wie das Wachs der Kerzen, die von den Zehntausenden bis zum späten Abend noch vor dem Zaun des Palastes entzündet werden.

Die Frühmesse in der barocken Karmeliterkirche neben dem Präsidentenpalast ist eben zu Ende. Jarosław Kaczyński, PiS-Abgeordnete und ehemalige Mitarbeiter aus der Präsidialverwaltung Lech Kaczyńskis werden durch einen Seiteneingang hinausgeführt. Unter Trompetenschall hat die Menge der Gläubigen die Kirchenhymne „Gott, der du Polen“ geschmettert: „Ein freies Vaterland gebe uns, Herr, zurück!“ Die draußen Wartenden stimmen die Nationalhymne an, die aus der Kirche Drängenden stimmen geschlossen ein, Dutzende weiß-rote Fahnen werden in die Höhe gereckt: „Noch ist Polen nicht verloren, solange wir leben!“

Vor einem einfachen Holzkreuz legt Kaczyński, seit jenem 10. April 2010 nie anders als schwarz gekleidet, Blumen nieder. Noch zweimal wird er an diesem Tag hierher zurückkehren: Von der Bühne gegenüber dem Amtssitz seines toten Bruders hält er am Nachmittag eine kurze, eher blasse Rede. Abends um neun noch einmal. Ein Heimspiel. Die schon viele tausend Versammelten sind ohnehin Anhänger. Die PiS sammelt ihre Wähler. Sie tragen Fahnen, Transparente und Spruchbänder. „Putin, gib das Flugzeugwrack zurück und nimm Tusk und Komoruski zu dir.“ Gemeint ist der derzeitige, unter den Demonstranten ungeliebte Staatspräsident Bronisław Komorowski, der als Sejmpräsident noch am 10. April 2010 kommissarisch die Amtsgeschäfte Lech Kaczyńskis übernahm. „Auf unheimlich zynische Weise riß der die Macht an sich“, kommentiert der Mittvierziger Tomasz das Plakat. „Schon nach den ersten Meldungen damals, in Smolensk gäbe es keine Überlebenden, fing der an, die Papiere zusammenzusuchen. Kaczyńskis Leiche war noch nicht mal identifiziert!“, erklärt der Vater dreier Jungen.

Auf eine weiß-rote Fahne ist geschrieben: „Katyn 1940 – Smolensk 2010“. Da ist er wieder, der polnische Opfermythos. Dessen Grundmelodie der Trauermarsch Chopins ist. Dessen Herz in einer der umliegenden Kirchen ruht. Von anderen Transparenten heißt es: „Lech Kaczyński – dein Geist ist unter uns!“, „Polen den Polen!“ oder „Wach auf, Polen, und kehr zurück zu Gott!“

 „Wir haben ein Recht auf die Wahrheit als Bürger und als Nation!“ Jarosław Kaczyński spielt auf die unbegreiflichen Versäumnisse der Tusk-Regierung bei den Ermittlungen rund um den Smolensk-Komplex an. Der PiS-Vorsitzende spricht von der zerbrochenen Einheit der Nation und vom patriotischen Erbe seines Bruders. „Unser Ziel ist das Streben nach der Wahrheit, aber ebenso danach, daß Polen stark und stolz, souverän und ernst genommen wird.“ Aus der Menge tönt der Schlachtruf: „Hier ist Polen!“

Bis zur Dämmerung zeigen die Großbildleinwände Szenen aus dem Leben Lech Kaczyńskis, Aufnahmen der Trümmer der Tu-154M und von der Beerdigung des Präsidentenehepaars auf der Wawelburg in Kraukau. Untermalt von getragener Musik. „Still! Sie schlafen ... Aber vielleicht weckt ihr Los in uns das, was rein ist und recht?“ Das „Traurige Lied“ der Posener Interpretin Maria Gabler – „Der Präsident zieht auf den Wawel“ – ist so etwas wie die Smolensk-Hymne des oppositionell-patriotischen Lagers.

„Die Welt hätte Katyn vergessen, wenn es nicht Smolensk gegeben hätte:“ Der Höhepunkt des Tages ist zweifellos die Messe am Abend in der Kathedrale hinter dem Stadtschloß. Bischof Józef Zawitkowski spricht diesen Satz in eine erwartungsvolle Stille hinein. Er ist so etwas wie der geistliche Patron aller „Smolensk-Zweifler“. Die Menschen stehen mit ihren Fahnen in und vor der Kirche dicht wie Sardinen in der Büchse. Von den Pfeilern des gotischen Gotteshauses hängen die Nationalflaggen. Im Chor haben Angehörige der beim Absturz Umgekommenen und zwei Dutzend Geistliche aus ganz Polen Platz genommen, darunter der einflußreiche Medienunternehmer Pater Tadeusz Rydzyk aus Thorn. Dessen Sender übertragen live.

„Wenn ich dich vergessen sollte, mein Vaterland, dann vergiß du, Gott im Himmel, mich.“ Die Gläubigen erleben eine Stunde des Trostes, der Aufrichtung und nationalen Selbstvergewisserung. „Einen jeden von euch drücke ich an mein Herz. Besonders die, die weinen.“ Die Predigt des Hirten ist von einem in Deutschland vollkommen ausgestorbenen nationalen Pathos getragen. Nicht wenige Gläubige wischen sich Tränen aus den Augenwinkeln. „Wir sind nicht krank am Vaterland“, greift der Bischof eine auch in Polen zunehmende Anti-Stimmung gegen alles Patriotische auf. „Wir wollen uns nur erinnern und unsere Identität bewahren!“ Tosender Applaus brandet auf. „Hier ist das Herz Polens! Gott wird sein Volk erretten. Gott gibt den Seinen Kraft.“

Zum Auszug – die Gläubigen werden sich gleich mit dem Segen des Bischofs zum Marsch der Zehntausenden auf der Krakauer Vorstadt vereinen – wieder die Hymne „Gott, der du Polen“. Wie zu „Solidarność“-Zeiten recken die Menschen die rechte Hand in die Höhe, Zeige- und Mittelfinger zum Viktoria-Gruß gespreizt: Die Wahrheit wird siegen. Die Wahrheit über Smolensk.

Foto: Vor dem Amtssitz des polnischen Staatspräsidenten am 10. April 2013 in Warschau: „Tusk, du wirst dich für Smolensk verantworten!“

 

Smolensk: Noch immer unaufgeklärt

Die Ursache für den Absturz einer polnischen Regierungsmaschine mit 96 Toten, darunter der konservative Staatspräsident Lech Kaczyński, am 10. April 2010 im russischen Smolensk ist auch drei Jahre danach noch nicht aufgeklärt. Die polnische Militärstaatsanwaltschaft hat die Ermittlungen wieder aufgenommen. Die offiziellen Untersuchungsberichte Rußlands und Polens gelten inzwischen als völlig überholt. Kritiker der Opposition werfen der Regierung von Premierminister Donald Tusk vor, Polen ohne Not in eine schlechte Rechtsposition gegenüber Rußland manövriert und Beweisstücke nicht gesichert zu haben und die Ermittlungen zu verschleppen.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen