© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/13 / 19. April 2013

Bösartige Menschenliebe
Handreichung für Schulen: Ein Tagungsband versammelt gewichtige Argumente zur Inklusion
Karlheinz Weissmann

Es ist in der letzten Zeit eher ruhig geworden in bezug auf das Thema „Inklusion“, die „Schule für alle“, den gemeinsamen Unterricht für Behinderte und Nichtbehinderte (JF /12). Währenddessen werden Tatsachen geschaffen. Zu stören scheint das niemand, auch die bürgerliche Bildungspolitik nicht, obwohl die weiß oder doch wissen sollte, daß mit der Inklusion die „Systemfrage“ (Hans Wocken) gestellt ist, also das Ende des gegliederten Schulwesens in Deutschland vollendet wird.

Der sozialdemokratische Kultusminister von Mecklenburg-Vorpommern, Mathias Brodkorb (36), hat deshalb schon süffisant gefragt, ob man etwa in der Union gar nicht verstehe, daß die Parteinahme für Inklusion nichts anderes ist als die Bereitschaft, das „Trojanische Pferd“ der Gesamtschule durch das Tor der Stadt zu ziehen.

Die Äußerung fiel bei Gelegenheit des Ersten Inklusionskongresses Mecklenburg-Vorpommerns, der im Mai 2012 in Rostock stattfand und dessen Hauptbeiträge und einige Dokumente jetzt gedruckt vorliegen beziehungsweise im Internet als PDF-Datei heruntergeladen werden können. Um es gleich zu sagen: die Lektüre des Ganzen lohnt sich nicht, die von Teilen schon.

Getrost überspringen darf man die politischen Absichtserklärungen und die Beiträge der Pädagogen, die auf weiten Strecken nichts als eine Anregung sind, darüber nachzudenken, inwiefern Pädagogik überhaupt als Wissenschaft bezeichnet werden kann. Anders verhält es sich mit dem Text von Brodkorb selbst  („Warum Inklusion unmöglich ist“) und den bemerkenswerten Ausführungen des Alt- und Kulturhistorikers Egon Flaig.

Was an Brodkorbs Argumentation besticht, ist vor allem der Verweis auf den „utopischen“ Charakter aller Inklusion, die in Verwirklichung einer „Pädagogik der Vielfalt“ jede schulische Norm – bei der Diagnose (Behinderung – Nichtbehinderung) wie der Bewertung (begabt – nicht begabt; gut, mittelmäßig, schlecht) – in Frage stellt und abgeschafft wissen will. Wenn Brodkorb dabei von „Kommunismus für die Schule spricht“, ist das aber leider nicht so polemisch gemeint, wie man wünschen möchte. Vielmehr bezieht sich die Formulierung auf Marxens Postulat „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.“

Ohne Zweifel hat Brodkorb damit etwas entscheidend Richtiges gesehen, nämlich den notwendigen Zusammenhang zwischen Inklusion und einer radikal egalitären Weltanschauung. Nur fehlt die Schlußfolgerung, daß es sich dann nicht um einen schönen, wenngleich unrealisierbaren, Traum handelt, sondern um einen Alptraum.

Lediglich in den Fußnoten des gedruckten Textes versteckt findet man die Vermutung, daß die Inklusionsdebatte im Grunde ein „terminologisches Spiel“ sei oder doch „unhintergehbare anthropologische Unvollkommenheiten“ jeder Verwirklichung entgegenstehen. Und zum Schluß siegt erwartungsgemäß die (partei)politische Räson, das heißt der Vorschlag, das Unmögliche möglich zu machen, eine „gemäßige Inklusion“ in langen Fristen zu verwirklichen, und die prinzipiellen Fragen sind vom Tisch.

Oder scheinen vom Tisch zu sein. Denn all die grundsätzlichen Probleme, die Brodkorb in seinem Vortrag übergeht, greift Egon Flaig auf. Der an der Universität Rostock lehrende 63jährige ist ohne Zweifel einer der klügsten Kritiker zentraler Denkverbote der Gegenwart. Schon seine Angriffe auf die schleichende Islamisierung wie den kollektiven Masochismus der Europäer sind von bemerkenswerter Klugheit und Präzision, aber auch von der notwendigen Schärfe. Dasselbe wird man im Hinblick auf seine Stellungnahme zur Inklusion sagen können.

Tatsächlich hält sich Flaig nicht mit deren Wünschbarkeit, Praktikabilität oder Finanzierung auf, sondern stellt das Konzept direkt und grundsätzlich in Frage. Seiner Meinung nach fehlt schon den gesetzlichen Vorgaben für die Inklusion jede Legitimität, da die entsprechende UN-Resolution nicht auf demokratischem – sondern „gegendemokratischem“ – Weg zustande gekommen ist.

Die Befürworter der Inklusion hätten außerdem das Prinzip der grundrechtlichen Gleichheit aller Menschen mißverstanden und übersehen, daß dem die Annahme eines körperlich wie geistig gesunden Individuums zugrunde liege (und liegen muß, da für die Anspruchnahme des Rechts ein erhebliches Maß an Selbständigkeit vorauszusetzen ist), daß mithin Behinderungen keine „Unterschiede wie andere auch“ sind.

Vor allem aber geht es Flaig darum, daß Inklusion dem „Humanismus“ widerspricht, Humanismus verstanden als eine Vorstellung von Erziehung und Bildung, die die Steigerung der dem einzelnen innewohnenden Potentiale wünscht; Inklusion bedeute aber, daß der – nicht erreichbaren – Steigerung der Potentiale von Behinderten, die – erreichbare – Steigerung der Potentiale von Nichtbehinderten geopfert werde. Der in den gesetzlichen Vorgaben festgestellte Anspruch aller Schüler auf optimale Förderung lasse sich nicht verwirklichen.

Ausschlaggebend ist Flaigs Hinweis, daß Inklusion auf einem falschen Menschenbild und Machbarkeitswahn beruht. Er sieht sehr klar den Zusammenhang zwischen dem einen und dem anderen, glaubt aber doch, es mit irregeleitetem Idealismus zu tun zu haben. Edmund Burkes Wort von der „bösartigen Menschenliebe“ der Jakobiner zitiert er leider nicht. Das ist aber, wenn überhaupt, die einzige Schwäche seiner Argumentation.

Und um so bemerkenswerter, daß ihn nicht einmal die erwartbare Folgenlosigkeit seines Widerspruchs verzagen läßt. Zuletzt setzt er darauf, daß die Realität die ideologischen Vorgaben schon einholen werde, und schwankt nur zwischen der Sorge vor einem langwierigen, teuren und extrem frustrierenden Prozeß der Desillusionierung und der Angst vor einer zunehmend totalitär agierenden Bürokratie, die unbeschadet aller Faktizität das Unmögliche erzwungen oder wenigstens dauernd vorgetäuscht wissen will.

Mathias Brodkorg und Katja Koch (Hrsg.): Das Menschenbild der Inklusion. Institut für Qualitätsentwicklung Mecklenburg-Vorpommern, 120 Seiten

www.bildung-mv.de

Foto: Die Schüler Willi (l.), Johannes und der am Down-Syndrom erkrankte Felix (r.) in der Gemeinschaftsschule Gebhardschule in Konstanz zusammen mit der Rektorin Elke Großkreutz (Mai 2012): Anspruch aller Schüler auf optimale Förderung

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen