© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/13 / 19. April 2013

Volksabstimmungen
Demokratie konkret gemacht
Werner J. Patzelt

Deutschlands Demokratie geht es merkwürdig. Sie ist stabil und lebendig. Ihre Leistungsbilanz, ihre Institutionen gelten international als gelungen, in mancher Hinsicht als vorbildlich. Doch das griesgrämige Grummeln an den Stammtischen der Nation nimmt kein Ende.

Die Ursachen? Da gibt es die Enttäuschung vieler Bürger über so große Unterschiede zwischen der in Wahlkämpfen verheißenen Problemlösungsfähigkeit unserer politischen Klasse und jenem begrenzten Können, das sie nach den Wahlen zeigt. Da spürt man die Beschränkung nationaler Demokratie im Regierungssystem der EU und gar der Eurozone, ja fühlt die eigene Regierung dazu gepreßt, politische Geschäfte zum Nachteil wenn schon nicht des Landes, so doch seiner Steuerzahler abzuschließen. Da ist das Auseinanderfallen politischer Öffentlichkeit in sachlich wie sprachlich segmentierte Teilöffentlichkeiten, die lose zusammengehalten werden durch Gebote und Verbote politischer Korrektheit. Und da ist die Abstufung politischer Beteiligung entlang dem sozialen Schichtungsgefüge: je weiter unten, um so weniger Teilhabe. Das alles führt zur Suche nach Verbesserungsmöglichkeiten unserer Demokratie.

Die erkennen viele in mehr „direkter Demokratie“. Doch was soll das sein? Gewiß auch mehr Bürgerbeteiligung an Willensbildungs- und Planungsprozessen. Tatsächlich läßt sich vorhandene Sach- und Politikkompetenz besser nutzen, wenn es niedrigschwellige Möglichkeiten zur punktgenauen Einbeziehung von mehr Bürgern gibt. Außerdem kann man regionale Konflikte – zumal um infrastrukturelle Großprojekte – durch rechtzeitige Politisierung entschärfen. Überdies setzt mancher seine Hoffnungen in das Potential von „e-democracy“, also in die Nutzung moderner Informations- und Kommunikationstechnologie. Allerdings werden die schon verfügbaren Möglichkeiten direkter Bürgerbeteiligung gerade nicht im möglichen Umfang genutzt. Das Angebot paßt anscheinend nicht zur Nachfrage. Also sinnt man auf Zusätzliches.

Vielen fällt dann die Direktwahl des – dann auch mit mehr Macht auszustattenden – Bundespräsidenten ein, ebenfalls der Ministerpräsidenten, mitunter gar des Bundeskanzlers. Auf diese Weise fordert man als „mehr direkte Demokratie“ nichts anderes als die Einführung des präsidentiellen Regierungssystems. Dieses besteht zwar dank der direkten Wahl von Bürgermeistern und Landräten bereits auf Deutschlands kommunaler Ebene. Auf Länder- und Bundesebene haben wir hingegen parlamentarische Regierungssysteme, also solche, bei denen die Bestellung des Regierungschefs Sache allein des Parlamentes ist. Das hat sich in Deutschland so gut bewährt, daß es keinen guten Grund gibt, die Volkswahl von Regierungschefs einzuführen. Und geradezu abwegig wäre es, unser parlamentarisches Regierungssystem auf Bundesebene durch Einführung eines dank Volkswahl mitregierenden Staatsoberhaupts zu verkomplizieren.

Obendrein wünscht man sich (weitere) plebiszitäre Instrumente. Dabei unterscheidet man allzu selten zwischen der Volksgesetzgebung (möglich in allen Bundesländern); solchen fakultativen Gesetzesreferenden, die – wie in Schweizer Kantonen – durch Sammlung einer vorgegebenen Mindestanzahl von Unterschriften binnen bestimmter Frist von einer Referendumsinitiative ausgehen und die Aufhebung eines bereits parlamentarisch beschlossenen Gesetzes zum Ziel haben; den obligatorischen Referenden (in wenigen Bundesländern vorgesehen bei Verfassungsänderungen, im Bund bei einer Neugliederung des Bundesgebietes); solchen Entscheidungsfragen, die dem Volk von Verfassungsorganen nach eigenem Ermessen vorgelegt werden (in vielen deutschen Kommunalverfassungen möglich als „Ratsvorlage“, in etlichen Staaten schwächer ausgestaltet als „konsultatives“ Referendum); sowie fakultativen Sachreferenden, die – wie in manchen deutschen Kommunalverfassungen – von einer Referendumsinitiative, nicht aber von Inhabern öffentlicher Ämter, herbeigeführt werden können.

Diese fünf Instrumente funktionieren höchst verschieden und zeitigen recht andersartige politische Folgen. Zumal ihre Wirkungsrichtung sie unterscheidet. „Von unten nach oben“, also vom Volk hin zu seinen Vertretern, wirken die obligatorischen Referenden, die Volksgesetzgebung sowie die von einer Referendumsinitiative ausgehenden fakultativen  Gesetzes- oder Sachreferenden. Denn bei ihnen muß sich die politische Klasse stets auf Positionen und Bewegungen einlassen, die nicht (allein) von ihr ausgehen. Hingegen wirken alle von den Staatsorganen nach eigenem Ermessen anzusetzenden Referenden klar „von oben nach unten“. Im noch besten Fall delegiert die politische Klasse die von ihr zu tragende Verantwortung je nach Opportunität ans Volk. Im schlimmsten Fall manipuliert eine Regierung die Stimmbürger durch suggestive oder den Kern der Sache verhüllende Frageformulierungen. Und meist ist die Frage auf dem Abstimmungszettel eine andere als jene, um die es machtpolitisch geht. Alle Kritik an Volksabstimmungen mit Wirkungsrichtung „von oben nach unten“ ist berechtigt, da sie auf solche demokratieschädigenden Wirkungen abzielt. Zu Unrecht aber trifft sie auch die „von unten nach oben“ wirkenden Volksabstimmungen.

Einführen sollten wir tatsächlich das fakultative Gesetzesreferendum, vielleicht sogar hinsichtlich von Ratifikationsgesetzen internationaler Verträge. Es paßt nämlich bestens zur repräsentativen Demokratie: Das erste Wort haben stets Parlament und Regierung – doch das entscheidende Wort kann immer das Volk sprechen, worauf sich die politische Klasse von vornherein einstellen muß. Auch ist dieses Instrument überhaupt nicht vom populärsten Einwand gegen Volksabstimmungen betroffen: das Volk sei mit Gesetzgebungsaufgaben überfordert. Hier geht es nämlich stets um ein vom Parlament bereits beschlossenes Gesetz.

Gleichwohl verspricht auch auf Bundesebene die Volksgesetzgebung unser Staatswesen zu verbessern. Wem sie zu weit ginge, sollte folgende Minimalform erwägen: Der Bundestag würde durch Volksabstimmung dazu verpflichtet, binnen vorgegebener Frist ein – anschließend dem fakultativen Gesetzesreferendum unterwerfbares – Gesetz zu beschließen, das der Behebung eines der Abstimmungsmehrheit auf den Nägeln brennenden Problems dient. Ein solches plebiszitäres Instrument ergänzte im Grunde nur das jetzt schon gegebene Recht allein des Verfassungsgerichts, dem Parlament „Gesetzgebungsaufträge“ zu erteilen. Und gut für unsere Demokratie wären wohl auch obligatorische Referenden über Entscheidungen, welche die nationale Souveränität oder die Erweiterung der EU betreffen.

Damit das alles tatsächlich Wirkungen zeitigt, sollte unbedingt das von deutscher Verfassungsdoktrin genährte Verbot fallen, auch Teile der Einnahmen und Ausgaben des Staates einer Volksabstimmung zu unterziehen. Das von so vielen verteidigte parlamentarische Monopol hierauf entstammt nämlich jenen Zeiten ständischer Repräsentation, da die Vertreter von Städten, Rittergütern oder Fürstentümern über ihre eigenen Beiträge zum Staatsganzen entschieden. Doch heute verteilen Abgeordnete, den kommenden Wahlkampf im Blick, die Einkünfte der Bürger. Für deren finanzielle Entmündigung nach der Parlamentswahl gibt es keinen zwingenden Grund.

Natürlich bedürfen alle einzuführenden plebiszitären Instrumente zweckdienlicher Antrags- und Zustimmungsquoren, auch detaillierter Regelungen zur Ausgestaltung sowie Finanzierung der Abstimmungskampagnen, und obendrein braucht es für die Volksgesetzgebung klare Bestimmungen zur verfassungsrechtlichen (Vorab-)Kontrolle.  Auch müßten Volksabstimmungen eine Bindewirkung bis in die nächste parlamentarische Wahlperiode haben, damit man eine plebiszitäre Entscheidung, die ein Teil der politischen Klasse oder Bevölkerung zu korrigieren wünscht, demokratiekonform zum Wahlkampfthema machen kann.

Einmal eingeführt, würde jedes dieser Instrumente große Vorauswirkungen zeitigen – gerade so, wie einst das Vorzeigen der Folterwerkzeuge im Kriminalprozeß. Eben solche Vorauswirkungen bezögen dann auch jene unteren Gesellschaftsschichten wirksam in den politischen Prozeß ein, die sich zwar punktuell, doch nicht dauerhaft politisch mobilisieren lassen. Im übrigen blieben politische Bildungswirkungen nicht aus, könnten die Deutschen wenigstens einmal jährlich eine folgenreiche Sachentscheidung treffen und nicht nur alle paar Jahre Prokura für das Regierungsgeschäft erteilen.

Außerdem sollte man die Auswahlbedingungen des Personals unserer repräsentativen Demokratie verbessern. Durchaus berechtigte Kritik trifft die flächendeckende Karrierisierung des politischen Lebens und das von ihr erzeugte Rekrutierungsmuster des politischen Nachwuchses. Schon in sehr jungen Jahren muß nämlich auf Politik als Beruf ausgehen, wer an die Spitze strebt; und das schließt jene aus von wirkungsvoller politischer Teilhabe in Land, Bund und Europa, die erst um die Lebensmitte herum entscheiden möchten, ob sie ihre Tatkraft fortan auch in den Dienst des Gemeinwesens stellen wollen. Im übrigen lädt zu offener Politikerverachtung die Vermutung ein, politischer Aufstieg hänge vor allem vom Dabeisein ab, doch viel weniger davon, daß man redlich für Inhalte steht oder Sachkenntnis auch jenseits des politischen Gewerbes erworben hat.

Es bringt aber nicht viel, einfach nach „neuen Parteien mit neuen Köpfen“ zu verlangen – so, als ob „neue Köpfe“ auch schon die von besseren Politikern wären. Ebenso wenig bringen Amtszeitbegrenzungen für Abgeordnete, denn sie änderten nichts an deren Rekrutierungsmuster. Doch gerade dessen Auswahlbedingungen müssen umgestaltet werden. Das gelänge ganz systemkonform durch Einführung offener Vorwahlen für alle Parlamentsmandate. Dann müßte sich, wer Direkt- oder Listenkandidat einer Partei werden will, nicht auf Parteitagen oder Delegiertenversammlungen, sondern in einer offenen Vorwahl dem Auswahlprozeß unterziehen. Diese würde in jenem Wahlkreis durchgeführt, aus dem der Bewerber ins Parlament abgeordnet werden will. Ferner könnte sich jeder dort wahlberechtigte Bürger an den Vorwahlen aller (!) Parteien beteiligen. Das machte die Kandidatenselektion von einem parteiinternen Verfahren zur Angelegenheit aller Wahlbürger. Zwar wäre dadurch die Attraktivität einer Parteimitgliedschaft schon in jungen Jahren gemindert. Doch es wäre die Chance geschaffen auf eine landes- oder bundespolitische Laufbahn für solche Frauen und Männer, die zuvor auch im gesellschaftlichen, wirtschaftlichen oder kulturellen Leben Ansehen erworben haben.

Das wiederum erlaubte es, sich mit aktiver politischer Beteiligung Zeit zu lassen und die „rush hour“ des Lebens – Berufseinstieg, Familiengründung – nicht noch mehr belasten zu müssen. So weitete sich beträchtlich der Kreis derer, die für Parlamentsmandate und auf ihnen aufbauende Spitzenämter in Frage kämen. Dennoch wäre niemand daran gehindert, von Jugend an seiner politischen Begabung nachzugehen. Bloß müßten sein Können und seine Statur auch dafür reichen, die Bürger im Wahlkreis zu beeindrucken – und nicht nur Seilschaften in seiner Partei.

Gewiß haben alle empfohlenen Reformen auch Risiken und Nebenwirkungen. Um so wichtiger wäre es, sie jetzt schon gründlich zu erwägen – und nicht erst dann, wenn Veränderungswünsche aus akuten Problemen entstehen und Zeitdruck zu unbedachten Weichenstellungen führt.

 

Prof. Dr. Werner J. Patzelt, Jahrgang 1953, ist Gründungsprofessor des Instituts für Politikwissenschaft an der TU Dresden. Seit 1992 hat er dort den Lehrstuhl für Politische Systeme und Systemvergleich inne. Er ist Mitglied im Kuratorium der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung sowie Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung.

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