© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/13 / 19. April 2013

Meister der Begriffsgeschichte
„U-Boot“ Carl Schmitts: Zur Erinnerung an den Historiker Reinhart Koselleck
Felix Dirsch

Wer Reinhart Koselleck zu Lebzeiten noch begegnet ist, erinnert sich an einen ebenso vitalen wie kräftigen Mann. Das war nicht immer so. Der junge Kriegsfreiwillige magerte in russischer Gefangenschaft im fernen Kasachstan ab wie seine Kameraden, befand sich aber immer noch in besserer Verfassung als viele Leidensgenossen. Dennoch wurde er entlassen und im Zug nach Westen geschickt. Die sowjetischen Wachen an der Grenze, die „Fettprüfer“, die die Arbeitsfähigkeit der Entlassenen nochmals beäugten, hätten ihn wohl zurückgeschickt, wäre nicht eine Wachablösung angestanden. So kam er heil nach Hause.

Ohne diese zufällige Begebenheit wäre es wohl nicht zu der Karriere eines der fähigsten Historiker in der Geschichte der Bundesrepublik gekommen. Koselleck, 1923 geboren, aus bildungsbürgerlichem Haus stammend, hatte das Glück, an der Universität Heidelberg studieren zu können, an der in den 1950er Jahren herausragende Köpfe wie Karl Löwith, Hans-Georg Gadamer, Ernst Forsthoff und Werner Conze lehrten. Koselleck fand den Weg zur Sozialgeschichte. Sein Ansatz verdeutlicht, daß diese Disziplin nicht nur ein methodisches Vehikel für linke Versuche der Umdeutung der deutschen Geschichte im Sinne einer Ansammlung von Modernisierungsverhinderungsversuchen (gemäß Vorstellungen von Hans-Ulrich Wehler und Jürgen Kocka) war, wie mancher konservative „Neohistorist“, etwa Thomas Nipperdey, argwöhnte, sondern seriös komplementär zu einer traditionellen Politikhistoriographie fungieren kann.

Früh kam Koselleck mit dem Werk des Staatsrechtlers Carl Schmitt in Berührung. Er fungierte als Knoten in jenem Netzwerk, mittels dessen der Meister aus Plettenberg „Gespräche in der Sicherheit des Schweigens“ führen konnte und auch als stigmatisierter Abwesender in vielen Diskursen präsent war. Die Dissertation des angehenden Geschichtswissenschaftlers legte die Wurzeln der Schmittschen These vom ideologischen Weltbürgerkrieg frei und verortete diese Ursprünge in dialektischen Prozessen, die die Aufklärung einst ausgelöst hatte und nicht mehr einfangen konnte.

„Kritik und Krise“ hat in einer heute noch beeindruckenden Weise die Nachwirkungen solcher geistiger Beben seismographisch erfaßt, die bis in die Gegenwart reichen. Schon in dieser frühen Schrift zeigt sich sein Interesse für propagandistische Einflüsse wie jene der Freimaurerei, deren Protagonisten mit geistigen Mitteln sozial subversive Konsequenzen herbeiführten. Mögen auch manche Umschreibungen des Doktoranden wenig glücklich sein, wie etwa die von den „Bürgern der Freimaurer-Demokratie“, so handelt es sich um eine ungewöhnlich gehaltvolle Studie, die darüber hinaus noch leserfreundlich und kurz gehalten ist. Neben Hanno Kesting und Roman Schnur fungierte er zeit seines Lebens als „U-Boot“ Schmitts – und das mit einigem Recht, ist doch der so umstrittene Staatsrechtslehrer für seine äußersten Zuspitzungen von Begriffen bekannt, mit denen Koselleck freilich subtiler umgegangen ist.

Nach dem Erfolg des Erstlings war der Aufstieg des so gelobten Nachwuchswissenschaftlers kaum aufzuhalten. Mit einer materialreichen Arbeit über die preußische Bürokratie und ihre Dynamik im 19. Jahrhundert wurde er habilitiert.

Nach Lehrstühlen in Bochum und Heidelberg übernahm er ein Ordinariat in Bielefeld. Ein Schwerpunkt seines Schaffens stellte die Begriffsgeschichte dar. Viel rezipiert wurden die Bände „Zeitschichten“ und der postum publizierte Text „Begriffsgeschichten“. Ersterer spürt quasi geologisch nach, wie mehrere historische Zeitebenen von verschiedener Dauer und unterschiedlicher Herkunft dennoch gleichzeitig vorhanden und wirksam sind. Dabei hat er einen wichtigen Beitrag zur Aufhellung des Blochschen Schlagwortes der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ in größeren historischen Kontexten geleistet, mit dem der marxistische Philosoph insbesondere den Siegeszug des Nationalsozialismus zu erklären versuchte. Zudem beschäftigte Koselleck sich intensiv mit politischer Ikonographie. Eine seiner Abhandlungen analysiert den Totenkult in allen Facetten.

Zusammen mit den älteren Weggefährten Otto Brunner und Werner Conze initiierte er das lexikalische Mammutunternehmen „Geschichtliche Grundbegriffe“ – ein schwer zu übertreffendes, achtbändiges Meisterwerk, dessen erster Band 1972 auf den Markt kam. Die Herausgeber konnten viele namhafte Fachgelehrte als Mitarbeiter gewinnen. Grundlegende Begriffe der sozialen und politischen Alltagssprache, beispielsweise Staat, Herrschaft, Konservatismus und Demokratie, werden sehr ausführlich in ihrer Genese aufgezeigt, stets eingebettet in kultur- und sozialgeschichtliche Zusammenhänge.

Besonders stark wurde Kosellecks „Einleitung“ im ersten Band rezipiert. Sie enthält das vielzitierte Wort von der „Sattelzeit“. Der Verfasser führt aus, inwiefern sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Verflüssigung der politischen Begrifflichkeiten ereignete, die zum Teil völlig neue Inhalte erhielten. Es kam zu einem nachhaltigen Wandel der Wirklichkeitserfahrung. Diese Umprägungen beeinflußten maßgeblich die Umwälzungen von „1789“ und in der Folgezeit.

Zum fünfzigjährigen Doktorjubiläum 2004 veranstaltete der Schülerkreis ein hochkarätig besetztes Kolloquium in Heidelberg. Der Geehrte hielt zu diesem Anlaß eine beeindruckende Dankesansprache, die zu seinem Vermächtnis wurde. Als Koselleck zwei Jahre später starb, verlor Deutschland den letzten bedeutenden Sozialhistoriker bürgerlichen Zuschnitts, der imstande war, die Macht der Begriffsprägung und -durchsetzung in der ganzen Breite der frühneuzeitlichen Geschichte darzustellen. Beispielhaft steht er, der Unbelastete, für den gelungenen Versuch, gezeigt zu haben, wie das geistige Erbe seiner belasteten Gewährsleute (Brunner, Conze und Schmitt) „liberal rezipiert“ (Hermann Lübbe) werden konnte. So hat er zur Normalität der Bonner Republik mehr beigetragen als jene, die es für nötig hielten, 1968 und in den folgenden Umbruchsjahren alte Narben wieder aufzureißen und unter dem Deckmantel des Antifaschismus längst verschwundene Geister herbeizurufen.

Reinhart Koselleck: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache. Suhrkamp, Berlin 2011, broschiert, 569 Seiten, 22 Euro

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