© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/13 / 19. April 2013

Der Flaneur
In die Schranken gewiesen
Sebastian Hennig

Wartegemeinschaft im früh­abendlichen Halbdunkel an der Haltestelle einer mitteldeutschen Großstadt: Der aufreizend unauffällige Mann mit Aktentasche, vielleicht fünfzig, mit stark gelichtetem Haupthaar, Brillenträger, langer schwarzer Mantel, wird von einem alkoholisierten Rüpel bedrängt. Der belegt die völlig glanzlose Gestalt mit einfältigen Verbalinjurien: „Du Kommunistenschwein! Du bist doch auch so’n Kommunistenschwein!?“

Der Angesprochene verfügt nicht über Führungsqualitäten und verhält sich ungeschickt. Bestimmt ist er auch daheim in praktischen Verrichtungen nicht besonders tüchtig, kein Handwerker, eher ein Sachbearbeiter. Der blökende Wolf scheidet ihn von der Herde der Wartenden. Mit schaudernder Neugierde verfolge ich die derbe Posse, erst mit den Augen, dann auch sachte auf den Beinen. Denn sie treiben immer weiter ab vom Unterstand der Haltestelle.

Der Herr tut das Dümmste: Mehr aus Ungeschick denn aus Überheblichkeit läßt er die Nervensäge wissen, daß er sie nicht für voll nimmt: „Is ja guuht.“ Das reizt. Als der Flegel in dummer Wut schließlich den anderen am Kragen packt, lasse ich mich mit einem sonoren „Hehe!“ vernehmen und markiere einen Schritt nach vorne. Dieser Einspruch endet die Vorstellung. Der Schwarzmantel scheint überzeugt, daß ich seine weisen Pazifizierungsversuche mit roher Brutalität durchkreuzt habe: „Da muß man vorsichtig sein, der is total besoffen.“

Wir gehen zurück zur Haltestelle. Der Radaubruder bleibt uns im Rücken. Eine Bahn fährt ein. Nur zwei steigen ein von den vielen Wartenden. Der vom Trunk Besoffene und ich, der ich es von meiner Courage bin. Die Durchsage bekundet: Endhaltestelle. Also wieder rausgetaumelt, wo mir der Rotgesichtige nahe kommt. Er bedankt sich, daß ich mit ihm dumm war und zuvor seinen Dummheiten Abbruch tat. Ich doziere: „Der stärkste Antikommunismus besteht aus Höflichkeit, das bedeutet: sich nicht gemein machen, differenzieren.“ Er darauf: „Differrennsieren is schwer ...“

Es gilt, sein Leben lang zu arbeiten, zu kämpfen und jeden Tag neu zu beginnen.

Franz von Sales      (1567–1622)

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