© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  18/13 / 26. April 2013

Die Mai-Kirche des Kaisers
Vor 150 Jahren errichtet: Ein Bildband über ein Juwel der Neugotik, den Nassauer Landesdom in Wiesbaden
Volker König

Selten wurde ein Buchtitel so treffend gewählt wie dieser: „Himmlische Türme“. Sie sind die Kennzeichen der Wiesbadener Marktkirche fürwahr. Wie in die überirdische Welt weisende Finger recken sich die fünf bis zu 98 Meter hohen, in leuchtend rotem Backstein gehaltenen Türme in die Höhe: ein Anblick ästhetisch formvollendeter Neugotik, steingewordener Geist der Romantik. 1862 schuf der Architekt Carl Boos dieses Gotteshaus, das auch als Dom der evangelischen Landeskirche von Hessen-Nassau diente. Die „himmlischen Türme“ sind bis heute die höchsten Bauten Wiesbadens geblieben. Dieser Kirche widmet sich eine Neuerscheinung der Deutschen Stiftung Denkmalschutz, illustriert mit stimmungsvollen Architekturfotos.

Als bauliches Vorbild diente Boos neben den gotischen Kathedralen insbesondere Schinkels Friedrichswerdersche Kirche in Berlin. Auch das Innere atmet den Geist der Spätromantik. Das schlanke Mittelschiff lenkt den Blick unwillkürlich nach oben, und man blickt in das gemalte Sternenzelt des Kreuzrippengewölbes. Prächtige Radleuchter sorgen dort für effektvolles Licht.

Der „Nassauer Dom“ erlebte in seiner Geschichte sehr unterschiedliche Gäste. Der Komponist Max Reger saß 1890 bis 1898 am Orgeltisch. Ein großer Liebhaber der Marktkirche mit ihren in ungewöhnlicher Form um den Altar gruppierten lebensgroßen Evangelistenfiguren war aber vor allem Kaiser Wilhelm II. Er erwies sich als freigebiger Kunstmäzen, und nachdem 1908 vor der Marktkirche das Denkmal Wilhelm von Oraniens eingeweiht wurde, sah man Wilhelm II. alljährlich im Mai zu den Kaiserfestspielen in Wiesbaden – und natürlich zum Gottesdienst des auch als Schloßkirche dienenden Nassauer Doms. In jener Zeit entstand der Begriff der „Mai-Kirche“ des Kaisers. Die Wiesbadener wiederum dankten dem Kaiser seine Besuche mit großen Empfängen; zudem hatte man nicht vergessen, daß Hessen-Nassau zwar nach dem deutsch-deutschen Krieg von 1866 annektiert wurde, die Nassauische Kirche jedoch nicht in die Evangelische Landeskirche von Preußen eingegliedert wurde.

Später sollte der „Nassauer Dom“ noch einmal ein Ort politischen Geschehens werden. Mit Ernst Ludwig Dietrich, der 1934 zum Bischof der Nassauischen Landeskirche ernannt wurde, betrat ein bekennender Nationalsozialist die Kanzel der Marktkirche. Als jedoch im Jahr 1935 die Nationalsozialisten in der Kirchenpolitik einen neuen Kurs einschlugen, Reichsbischof Müller absetzten und die Landeskirchenregierung mit der „Bekennenden Kirche“ an einen Tisch bringen wollten, wurde Dietrich das Bauernopfer. Er war nun einmal zu sehr auf NS-Kurs. Er fühlte sich hintergangen, löste sich innerlich vom Nationalsozialismus und zog sich weitgehend auf seine Aufgabe als Marktkirchenpfarrer zurück.

Wie durch ein Wunder blieb die Marktkirche bei dem großen alliierten Luftangriff auf Wiesbaden im Februar 1945, als das benachbarte prachtvolle Rathaus und das Denkmal Wilhelm von Oraniens in den Staub sanken, von der Zerstörung verschont. Auch modernistische Experimente der Nachkriegszeit blieben ihr erspart. So kann man dieses Juwel der Neugotik immer noch unverfälscht als ein prachtvolles Gotteshaus und einen Ort zum geistigen Innehalten erleben.

Manfred Gerber, Axel Sawert: Himmlische Türme. Die Marktkirche in Wiesbaden. Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Bonn 2012, gebunden, 154 Seiten, Abbildungen, 19,90 Euro

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