© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  19/13 / 03. Mai 2013

Er wollte einen Maßstab für gelingendes Leben finden
Christlicher Nonkonformismus: Vor zweihundert Jahren wurde der dänische Philosoph Sören Kierkegaard geboren / Sein Lebensthema war die Existenz
Felix Dirsch

Als Sören Kierkegaard am 5. Mai 1813 in Kopenhagen geboren wurde, ging die napoleonische Ära langsam ihrem Ende entgegen. Der politische Sturm, den sie hervorgerufen hat, wich kurzzeitig den „halkyonischen Tagen“ (Leopold von Ranke). Langfristig war das politische Fieber, das aus der Französischen Revolution und ihren Folgen herrührte, nicht mehr aus der Welt zu schaffen.

Auch im Geistesleben wurde der Umbruch zum Dauerzustand. Bald nach dem Tode Georg Wilhelm Friedrich Hegels 1831 befehdeten sich Links- und Rechtshegelianer um das Erbe ihres Idols. Überwog beim Meister das explizit Christliche oder nicht vielmehr die versteckten atheistischen Implikationen, wie von seinen Schülern besonders Ludwig Feuerbach und Karl Marx hervorhoben? Jedenfalls waren auch die vehementen Gegner der Bewußtseins-philosophie unter den Linkshegelianern ebenso wie Hegel der Meinung, daß die Wahrheit nur im System erfaßt werden könne – freilich mußte dieses ihrer Meinung nach ein materialistisches sein, kein idealistisches. Sie stellten ihr Vorbild vom Kopf auf die Füße.

Nur dem Ganzen kam nach Auffassung dieser beiden Richtungen Wahrheit zu, so sehr sie auch sonst konträr waren. Das Sein bestimmte das Bewußtsein oder umgekehrt. Der einzelne hatte in beiden Entwürfen keinerlei Bedeutsamkeit, das war der blinde Fleck systemischen Denkens. Diese Lücke war für die ärgerlich, die am eigenen Schicksal laborierten und denen die individuelle Existenz Tag für Tag zum Problem wurde, für jene, die ihr persönliches Leben als Bewährungsprobe erlebten und sich nicht für lebensfremde Geist- oder Materiespekulationen interessierten. Es bedurfte eines Denkers, der das Vakuum füllte, und dieser betrat bald die philosophische Bühne.

In einem Land jenseits der erregten philosophischen Kontroversen jener Tage wuchs Kierkegaard heran. Es dürfte nur wenige Vertreter der Geistesgeschichte geben, deren Leben unter einem ähnlich schlechten Stern stand. Der Vater hatte Gott in einem schwachen Moment gelästert. Seither ging in der Familie das Gerücht um, daß ein Fluch auf ihr lastete – und das war wohl keine ganz unbegründete Meinung, erreichten doch von sieben Kindern fünf nicht das Erwachsenenalter.

Sören gehörte zu den beiden Ausnahmen. Glücklich konnte sein Dasein unter solchen Bedingungen kaum sein. Seine Verlobung mit der jungen Regine Olsen löste er nach kurzer Zeit. Tief saßen Schuldkomplexe und persönliche Ängste. Trost fand er zeitweise in der universitären Philosophie. Er promovierte über Sokrates, einen anderen großen Einzelgänger der Denkgeschichte, der ihn nachhaltig prägte. Daß er diese akademische Disziplin belegte, muß im nachhinein überraschen, war den bedeutenden Existentialisten, von Nietzsche bis zu Wittgenstein, doch nichts fremder als ein (als viel zu abstrakt empfundenes) Philosophiestudium. Sie gaben vor, die Schule des Lebens besucht zu haben.

Zum Christentum hatte Kierkegaard ein gespaltenes Verhältnis. Er stammte aus einem puritanisch-frommen Elternhaus und pflegte wohl ein enges, mystisches Verhältnis zu Jesus. Für die Staatskirche seines Landes, die sich in den irdischen Verhältnissen der Gegenwart bequem einrichtete, hatte er nicht mehr als Hohn und Spott übrig. Positive Nachrufe auf den wichtigsten Repräsentanten des zeitgenössischen dänischen Protestantismus, Jacob Peter Mynster, beantwortete er in Zeitungen mit unerbittlicher Polemik. Christsein hieß für ihn: „Gleichzeitigkeit mit Christus“. Echtes Christentum bedeutete nicht, einem „komfortablen Nachahmungstrieb im ekklesialen und imperialen Rahmen“ nachzugeben, sondern eine Wahl zu treffen „angesichts des Unglaublichen“ (Peter Sloterdijk).

Vor dem Hintergrund dieses Lebenslaufes lag sein großes Thema auf der Hand: die Existenz. Das Subjekt müsse sich in ein Verhältnis zu sich selbst setzen. Das könne nur mißlingen; denn die Verzweiflung, letztlich ein Ergebnis der Erbsünde, mache sich bemerkbar. Die Angst sei es definitiv, die den Geist vor sein eigenes Seinskönnen bringe, so in der wirkmächtigen Schrift „Der Begriff Angst“. Diese Abhandlung differenziert erstmals zwischen der Furcht, die stets ein konkretes Objekt besitzt, und der Angst. Letztere ist nach Kierkegaard dem immer präsenten, mehr impliziten Wissen des Menschen um seine Vergänglichkeit geschuldet – eine Vorahnung, die bei einigen Tieren höchstens rudimentär vorhanden ist.

Noch heute besticht sein Plädoyer zugunsten des Lebensernstes. Kierkegaard wollte stets einen Maßstab für gelingendes Leben finden. Gegen den Werterelativismus seiner Zeit, der von der heutigen postmodernen Beliebigkeit nicht weit entfernt gewesen sein dürfte, entwickelte er die drei Stufen der Existenz: das ästhetische Stadium, gefolgt vom ethischen und schließlich dem religiösen. Während der Ästhetiker vom äußerlich Zufälligen und vom Genuß lebt, entdeckt der Ethiker durch die Wahl – einer der Schlüsselbegriffe Kierkegaards – sein Selbstsein. Im religiösen Stadium gestaltet die ewige Seligkeit die profane Wirklichkeit um. Sie wird endgültig als relativ demaskiert. Gleiches gilt für die Zeitlichkeit.

Kierkegaard hat ein umfangreiches Werk hinterlassen. Das überrascht nicht nur angesichts der Tatsache seines frühen Todes mit nur 42 Jahren, sondern auch deswegen, weil der gesellige, diskussionsfreudige Mann einen nicht geringen Teil seines Lebens in Cafés und in anderen Vergnügungseinrichtungen verbracht hat. Die Ausschweifungen konnten seine Schwermut indessen nicht verdecken.

Lange nach seinem Tod erfuhr der Nonkonformist eine beinahe hypertrophe Rezeption. Als der millionenfache Tod auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges viele Fragen nach der tieferen Existenz des Menschen aufwarf, erinnerten sich zahllose Gelehrte an den öfters Belächelten. Egal, ob im Schrifttum Martin Heideggers, Karl Jaspers’ oder Karl Barths: Kierkegaards Vorstellungen waren nunmehr omnipräsent. Die Entscheidung als Handlungsimperativ mutierte zum Topthema. Seinen Lebensentwurf muß jeder selbst leben, nicht den, den „man“ vollzieht, so konnte man wieder und wieder lesen.

Kierkegaard, der gegen alle Arten des Geistes kritische Einsprüche erhob: gegen den Weltgeist, gegen den Menschgeist, gegen den „nur“ theologischen Heiligen Geist ohne Bekenntnis zu Christus – ausgerechnet Kierkegaard bestimmte den Zeitgeist nach 1918. Die Notwendigkeit des existentiellen Sprunges war in den erregten Diskussionen der Weimarer Republik in aller Munde.

Freilich war der Sprung Kierkegaards keiner ins Nichts wie der in manchen nihilistischen Entwürfen. Der Glaube bot letzten Halt. Die bleibende Gültigkeit der Aussagen Kierkegaards besteht darin, Wahrheit und Subjekt miteinander verknüpft und diese Verbindung in engen Zusammenhang mit Zweifel, Verdacht und schöpferischer Entscheidung gebracht zu haben. Auf diese Weise ist er in der Tat der Denker einer „nach vorne offenen Zeit“ (Sloterdijk).

Johan de Mylius (Hrsg.): Kierke-gaard für Gestreßte. Aus dem Dänischen übersetzt von Ulrich Sonnenberg. Insel Verlag, Berlin 2013, broschiert, 183 Seiten, 8 Euro

Foto: Sören Kierkegaard (1813–1855): Einsprüche gegen den Weltgeist

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