© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  19/13 / 03. Mai 2013

Der Ursprung der modernen deutschen Nation
Die Idee von 1813
Karlheinz Weißmann

In der Ausgabe 12 des Kunstwart, Jahrgang 1915, erschien ein Aufsatz des Theologen und Philosophen Arthur Bonus mit dem merkwürdigen Titel „Warum wir jetzt 1813 haben, nicht 1806“. Der Kunstwart war eine vielgelesene Zeitschrift des wilhelminischen Deutschland, ein Organ für das gebildete Publikum, kulturprotestantisch, mit Sympathie für Liberalismus und Lebensreform, unter dem Eindruck des Krieges aber auch betont patriotisch; bei Bonus handelte es sich um einen Autor kulturkritischer Bücher, die der Atmosphäre der Jahrhundertwende entsprachen und ihm eine breite Leserschaft sicherten. Seine Stimme hatte Gewicht.

Worum es Bonus in seinem Text ging, war eine Kritik der radikalen Kriegspartei, die unter dem Eindruck der ersten militärischen Erfolge weitgehende Annexionen forderte und immer wieder ins Feld führte, es sei im Grunde zu spät losgeschlagen worden, man hätte früher die Initiative ergreifen und die Marokko-Krisen nutzen müssen, um den Gegnern Deutschlands zuvorzukommen.

Dem hielt Bonus entgegen, daß es dem deutschen Wesen widerspräche, einen Krieg zu führen, „wir seien denn überzeugt und völlig im Klaren darüber, daß wir im Recht sind und nicht nur im Recht, sondern auch in der Notwendigkeit“. Eine deutsche Aggression gegen die Mächte der Entente hätte eine Niederlage wie die von Jena und Auerstedt zur Folge gehabt – „es wäre 1806 geworden“ –, erst die Überzeugung, daß Deutschland nur sich und seine gute Sache verteidige, konnte die psychologische Voraussetzung schaffen, einen „Befreiungskrieg“ zu führen, getragen vom ganzen Volk und geeignet, dessen Zusammenhalt zu erneuern und zu festigen.

Daß der Erste Weltkrieg in Deutschland wie in den Ländern seiner Gegner als „Kulturkrieg“ aufgefaßt wurde, ist bekannt. Bekannt ist auch die Vorstellung, daß der ideologische Konflikt zwischen Deutschland und dem „Westen“ auf den deutschen Eigenweg bei der Nationsbildung zurückzuführen war, der die napoleonische Besetzung den letzten Anstoß gab. Weniger bekannt ist dagegen, wie stark man die Parallelen zwischen der „deutschen Erhebung“ (Friedrich Meinecke) von 1813 und der von 1914 betonte, wie selbstverständlich das „August­erlebnis“ mit der Aufbruchsstimmung und dem nationalen Enthusiasmus des Frühjahrs und Sommers 1813 verglichen wurde und man den Auszug der Freiwilligen als Wiederholung des Auszugs der Freiwilligen gegen Napoleon verstand und für die Symbolpolitik erfolgreich auf populäre Vorstellungen der Befreiungskriege zurückgreifen konnte.

Insofern lag es nahe, auch für die „Ideen von 1914“: „Freiheit – Ordnung – Gemeinschaft“, auf das Modell der „Ideen von 1813“ zu verweisen. Man kann das an der neuen Intensität erkennen, mit der Fichtes „Reden an die deutsche Nation“ gelesen wurden oder der Art und Weise, wie die Kriegstheologie auf Vorstellungen Arndts und Schleiermachers zurückgriff, und ganz selbstverständlich setzte Ernst Troeltsch in einer 1916 gehaltenen Rede die Formel „Ideen von 1813“ voraus und machte damit deutlich, daß der Weltkrieg keine Fortsetzung der Bismarckschen Einigungskriege sei, sondern „allein dem Schicksalsringen mit Napoleon einigermaßen entspricht“.

Die Analogie interessierte Troeltsch, weil auch im dritten Jahr des Konflikts nicht klargeworden war, wie sich aktuell die „Ideen von 1813“ konkret umsetzen ließen, abgesehen von der polemischen Auseinandersetzung mit den „Ideen von 1789“: „Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit“. Insofern mochte beruhigen, daß auch in den Befreiungskriegen die „neue Form des Evangeliums des deutsch-nationalen Geistes der Freiheit, der produktiven Individualität und Ursprünglichkeit, des metaphysischen Glaubens an die göttliche Weltbestimmung des Deutschtums“ nicht direkt aus Aufklärung oder Klassik oder Romantik entsprang; ein Hinweis darauf, daß die „geistige Revolution“ der Gegenwart sich ihrerseits nicht unabhängig von der militärischen und politischen Lage entwickeln konnte und ihre endgültige Gestalt erst noch gewinnen werde.

Der Hinweis auf die Bedeutung der Lage ist auch deshalb wichtig, weil Troeltschs Rückgriff auf die „Ideen von 1813“ zu tun hatte mit einer Debatte der letzten Vorkriegszeit. Denn der Topos der „Ideen von 1813“ war zuerst im Kontext der Säkularfeiern zur Erinnerung an die Befreiungskriege aufgetaucht. Wahrscheinlich hatte ihn der Historiker Adalbert Wahl in Umlauf gebracht. Wahl ging es 1913 darum, hervorzuheben, daß man sich nicht nur eines militärischen Triumphes erinnere, sondern auch den Wert des moralischen, religiösen und intellektuellen Erbes der Vergangenheit begreifen müsse. Allerdings war seine „Festrede zur Erinnerung an die Erhebung des deutschen Volkes i. J. 1813 und zum 25jährigen Regierungsjubiläum S. M. des Kaisers“ sehr deutlich von dem Bemühen geprägt, der offiziellen Betrachtungsweise entgegenzukommen und weder dem Aufbruch der Nation noch der kritischen Wendung vieler gegen die monarchische Obrigkeit Platz einzuräumen.

Das unterschied seine Auffassung deutlich von der seines Kollegen Hermann Oncken, der zum Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig über „Die Ideen von 1813 und die deutsche Gegenwart“ handelte. Onckens Argumentation entsprach in vielem der nationaldemokratischen Deutung des Kampfes gegen Napoleon als Freiheitskrieg – nicht Befreiungskrieg – und ganz sicher dem neuidealistischen oder neuromantischen Zeitgeist, der auch die Feier der Jugendbewegung aus Anlaß des Jubiläums auf dem Hohen Meißner bestimmte, und sie widersprach einer konventionellen Anschauung, die entweder das „Der König rief und alle, alle kamen“ betonte, oder 1871 als Vollendung dessen begriff, was 1813 begonnen worden war. Demgegenüber betonte Oncken, daß es sich die wenigsten Deutschen 1813 hätten träumen lassen, „daß nach 100 Jahren Österreicher und Deutschböhmen, Tiroler und Steirer außerhalb aller staatlichen Verbindung mit dem ‘Reiche’ stehen würden“, und daß es Verrat an den Wegbereitern von 1813, insbesondere den Preußischen Reformern, sei, der staatlichen Initiative alles, der Selbstorganisation der Gesellschaft nichts mehr zuzutrauen.

Der großdeutsche Gedanke und die Vorstellung von einem deutschen „Dritten Weg“ zwischen westlicher Demokratie und östlicher Despotie gehörten zum Kernbestand der „Ideen von 1813“. Das erklärt ihren defensiven Charakter, den sie mit den „Ideen von 1914“ teilten. Im einen wie im anderen Fall ging es um deutsche Identität, nicht um Menschheitsbeglückung, um Selbstverständigung, nicht um Sendungsbewußtsein.

Allerdings bedeutete die Zurückhaltung auch ein Moment der Schwäche, und erst mit Verzögerung setzte sich während des Krieges unter den Befürwortern einer konstruktiven Neuordnung Europas die Vorstellung durch, daß der Rückgriff auf die Befreiungskriege mehr bedeuten müßte als die Mobilisierung der Nation und die Schaffung einer möglichst geschlossenen Volksgemeinschaft. Der Philosoph Max Scheler äußerte in seiner Abhandlung „Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg“: „Vielleicht sehen jetzt die Parteien, die den deutschen ‘Befreiungskrieg’ von 1813 vorschnell mit dem Namen ‘Freiheitskrieg’ benannten, daß sie diesen Namen als zweite Bestimmung des Deutschen Krieges noch aufsparen mußten.“ Denn erst der Weltkrieg, so Scheler weiter, vollende, was 1813 begonnen wurde, insofern, als nicht nur für die Freiheit Deutschlands gekämpft werde, sondern auch für die des Kontinents.

Es ist heute weitgehend in Vergessenheit geraten, daß trotz aller weltanschaulichen Heftigkeit des Konflikts zwischen deutschen „Helden“ und englischen oder französischen „Händlern“ (Werner Sombart) vor allem der Krieg gegen Rußland von vielen Deutschen als legitim betrachtet wurde. Bis in die Reihen der Liberalen und der Sozialdemokratie war diese Auseinandersetzung mit einer seit dem Vormärz virulenten Idee vom notwendigen Kampf gegen den großen Despoten im Osten verknüpft. In jedem Fall bot sich die Möglichkeit, den Aspekt der „Befreiung“ in den Vordergrund zu stellen, wenn man den kleinen Völkern Zwischen­europas die Erlösung von der russischen Fremdherrschaft anbot. Allerdings wollte Scheler auch da nicht stehenbleiben, dem es darum ging, neben Rußland die anderen Unberufenen – Großbritannien und Frankreich – soweit zurückzudrängen, daß sie ihre Hegemonialansprüche nicht länger verfolgen konnten, um die „Europaeinheit“ unter deutscher Führung Wirklichkeit werden zu lassen.

Es bedarf hier keiner Erläuterung der Tatsache, daß diese und alle ähnlichen Hoffnungen vergeblich waren und sich mit der Niederlage von 1918 die Art der Bezugnahme auf das Schlüsseljahr 1813 völlig verändern mußte. Wenn schon in der Übergangszeit zwischen den Waffenstillstandsverhandlungen und der Unterzeichnung des Versailler Vertrages eine scharfe Diskussion darüber entbrannte, ob die Lage eher der von „1806“ oder eher der von „1813“ vergleichbar sei, wenn Männer wie Walther Rathenau oder der Sozialdemokrat Paul Lersch glaubten, man müsse wie am Beginn der Befreiungskriege zu einer levée en masse aufrufen, während andere, Max Weber zum Beispiel, nur die Möglichkeit sahen, erneut den Weg zu beschreiten, der mit den Preußischen Reformen eingeschlagen worden war, dann hatte das aber mit den „Ideen von 1813“ nur noch wenig zu tun, so wenig wie der propagandistisch verengte Rückgriff auf die Befreiungskriege in den zwanziger, dreißiger und vierziger Jahren.

Immerhin blieb der Bezug während des Zweiten Dreißigjährigen Krieges präsent; anders als nach dem Zusammenbruch von 1945 oder der Wiedervereinigung von 1990. Denn kaum etwas wurde aus dem deutschen Geschichtsbild so konsequent verdrängt wie der Ursprung der modernen deutschen Nation. Diese Art „Nationsvergessenheit“ (Bernard Willms) könnte aber auch eine Möglichkeit bieten, eine Chance für den unbelasteten Rückgriff auf die Nation als umfassende – politische, gesellschaftliche, kulturelle – Einheit. Denn darum ging es in der Vergangenheit, wenn von den „Ideen von 1813“ gesprochen wurde, darin liegt ihre bleibende Bedeutung und daraus folgt der ihnen innewohnende Appell.

 

Dr. Karlheinz Weißmann, Jahrgang 1959, ist Gymnasiallehrer, Autor und wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Staatspolitik. Auf dem Forum schrieb er zuletzt zur JF-Debatte „Was ist deutsch?“ („Der Wille zur Gestaltung“, JF 42/12)

Foto: Caspar David Friedrich, Grabmale alter Helden, Öl auf Leinwand 1812: Die Befreiungskriege wurden aus dem deutschen Geschichtsbild konsequent verdrängt

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