© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/13 / 10. Mai 2013

Das Jahrhundert des Gehirns
Mit Milliarden soll das Denkorgan entschlüsselt und nachgebaut werden / Wo bleibt die Neuroethik?
Michael Manns

Eine teigige Masse, honigmelonengroß, rund 1,4 Kilogramm schwer, unter Fett und Wasser endlos verästelt 100 Milliarden Nervenzellen, jede Nervenzelle noch einmal mit bis zu 10.000 Verknüpfungen. Im toten Zustand ist sie grau. Das ist das geheimnisvollste und komplexeste Organ im Kosmos: unser Gehirn. Jene Instanz, die über das Universum und sich selbst nachdenken kann, jene Instanz, in der das geheimnisvolle Ich aufscheint, eine Instanz, der die eigene Endlichkeit bewußt ist.

Zwei Megaprojekte in Europa und den USA

Drei spannende Forschungsthemen hat die Wissenschaft unserer Zeit: den Kosmos, die Gene und unser Gehirn. Und schon längst sind die Neurowissenschaften zur Jahrhundertwissenschaft avanciert. Jedes Jahr erscheinen 35.000 neurowissenschaftliche Arbeiten. Immer genauer hat man das Organ untersucht, immer präziser kann man einzelnen Regionen bestimmte Denktätigkeiten zuordnen. Doch noch ist vollkommen unklar: Wie entsteht aus dem Feuer der Neuronen so etwas wie Bewußtsein? Das Ich, das uns von Tieren unterscheidet. Wie entsteht aus Materie Geist? Die alte Frage der klassischen Philosophie.

Zwei Megaprojekte sollen die Geheimnisse des Hirns entschlüsseln. Da ist das europäische Human Brain Project. Die EU adelte es als wissenschaftliches Flaggschiffprojekt und will über zehn Jahre verteilt eine Milliarde Euro dafür spendieren. Koordiniert wird das Projekt von dem israelischen Neurophysiologen Henry Markram von der TH in Lausanne (JF 23/12). Er hatte 2005 das Blue Brain Project gestartet, eine Art Vorläufer. Das Ziel war, ein Segment der Hirnrinde aus 10.000 Neuronen nachzubauen. Und da sind die USA. Präsident Barack Obama kündigte ein Projekt an, in dem Forscher eine Karte der gesamten Hirnaktivität eines Menschen erstellen sollen. Drei Milliarden Dollar sollen dafür fließen. Zwei Projekte also, die von Optimisten als „Apollo-Projekte“ des Geistes bejubelt werden. Kritiker sprechen von Größenwahn.

Eine der vielen Fragen stellt sich nach dem Sinn von Großforschung in diesen Milliardendimensionen. 1974 hat man den Kampf gegen den Krebs ausgerufen – man kämpft heute noch. Die Entzifferung des Genoms, ebenfalls zwei Großprojekte, führte ebenfalls zur Ernüchterung. Die String-Forschung rechnet seit 30 Jahren vor sich hin (JF 51/09) und das Jahrhundert des Gehirns wurde vor 20 Jahren schon einmal ausgerufen. Big Science führt nicht automatisch zu epochalen Durchbrüchen.

Zweifellos hat die Neurowissenschaft beeindruckende Einzelergebnisse vorgelegt – vor allem durch die bildgebenden Verfahren. „Wir stehen bei der Erforschung der Hirnfunktionen erst am Anfang“, sagt der Mainzer Neurophilosoph Thomas Metzinger. Es gebe „trotzdem atemberaubende Fortschritte“. Man wisse, wo Emotionen entstehen: „Wir kennen notwendige Bedingungen für Gefühle und viele andere Bewußtseinsinhalte, die Menschen mit bestimmten Hirnläsionen nicht mehr haben können.“ Weitere Schlaglichter der stürmischen Neuro-Entwicklung der jüngsten Zeit sind:

l Ratten-Telepathie: Zwei Tiere befanden sich in zwei verschiedenen Labors. Ihre Gehirne waren über Elektroden (Hirn-Hirn-Schnittstellen) und Internet miteinander verbunden. Den Forschern gelang es, Signale des einen Rattenhirns auf das andere zu übertragen. Ratte 2 tat mit Verzögerung dasselbe wie Ratte 1.

l An der Uni-Klinik Freiburg gelang es Ärzten, schwerstdepressive Menschen mit der „Tiefen Hirnstimulation“ zu heilen. Dabei stimuliert ein drei bis fünf Volt schwacher Strom (für die Kranken nicht wahrnehmbar) ganze Verbände von Nervenzellen.

l Große Fortschritte machen Versuche, Maschinen direkt mit Hirnströmen zu steuern. So können schon gelähmte Menschen Roboterarme steuern (und sich Schokolade in den Mund stecken).

Aber man will mehr: bahnbrechende Erkenntnisse mit revolutionären neurotechnischen Anwendungen. Intelligenzverstärker, Gedächtnis- und Gefühlsverbesserer (oder auch Gedächtnislöschung), Gedankenleser (hier gibt es Anfänge), Neurokosmetika, Gehirndoping und Gehirndesign, ungeahnte Therapiemöglichkeiten (Gelähmte, die Rollstühle mit Gedankenkraft lenken). Die Identifizierung der Ursachen von Autismus, Schizophrenie, Hyperaktivität und Depressionen scheint möglich. Das Militär hat Kampfjets im Fokus, die mit Gedanken gesteuert werden.

Wissenschaftliche Revolution

Die Neurotechnik-Euphorie ist unüberhörbar – doch wo bleibt die Ethik? Metzinger und andere fordern den breiten Diskurs in der Gesellschaft. In den Gehirnlabors wird schließlich nicht die Geschwindigkeit des Lichts gemessen oder an Schmerzmitteln geköchelt. Es geht um die Frage der Identität des Menschen. Welches Menschenbild haben wir und welches wollen wir? „Die traditionelle Strategie in Deutschland ist es ja, so lange angestrengt wegzugucken, wie es irgend geht, und dann voller Selbstmitleid auszurufen: Davon habe ich nichts gewußt!“, warnt der Mainzer Philosophieprofessor. Der koreanischstämmige US-Neurophysiker Sebastian Seung, der ein Manifest der Neurowissenschaften verfaßt hat, meint, erst künftige Generationen würden voll begreifen, welch eine wissenschaftliche Revolution sich da gerade vollzieht.

Nicht zum ersten Mal in der abendländischen Geschichte erlebte die Gesellschaft eine dramatische Änderung ihres Menschenbildes (mit den dazugehörigen tiefen Kränkungen). Die erste geht auf Galilei zurück. Die Menschheit mußte anerkennen, daß die Erde nicht der Mittelpunkt der Welt ist. Dann sorgte Darwin für die biologische Kränkung. Der Mensch ist ein naturhaftes Ergebnis der Evolution. Für die dritte Kränkung sorgte Freud selbst. Er nahm dem Menschen auch noch seine innere Souveränität. Denn da ist das dunkle Unbewußte, das so viel Macht ausübt.

Droht uns jetzt die vierte Kränkung durch ein Computermodell des Geistes? Werden Gleichungen, die das Feuern von Neuronen berechnen, unser Ich nur noch als Fiktion erscheinen lassen? Ebnen denkende Maschinen den Unterschied zum Homo sapiens ein?

Rüdiger Vaas hat in seiner „Schönen, neuen Neurowelt“ (JF 15/09) die Gefahren aufgezählt: das Problem der Hybris (Der Mensch will Gott spielen), die Frankenstein-Ambitionen, da die Grenzen zwischen Mensch und Artefakt verwischt werden, eine neue Eugenik. Er warnte vor dem Weg zu einem Transhumanismus. Dieser könnte aber auch zu einem Ende unserer menschlichen Werte und Einstellungen, zu einem Ende der Menschlichkeit und zu einem Ende des Menschen führen. Oder in Adornos Worten: „Das Programm der Aufklärung war die Entzauberung der Welt. Sie wollte die Mythen auflösen und Einbildung durch Wissen stürzen (...) den Menschen die Furcht nehmen und sie als Herren einsetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.“

Europäisches „Human Brain Project“: www.humanbrainproject.eu 

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