© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/13 / 17. Mai 2013

„Ich war das nicht“
Kriminalität: Im Prozeß um den Tod des Berliner Jugendlichen Jonny K. schieben sich die Angeklagten gegenseitig die Schuld zu
Hinrich Rohbohm

Sie verhüllen ihre Gesichter unter Jacken und Zeitungen, als sich eine Traube von Kameraleuten und Fotografen auf sie stürzt, sie filmt und fotografiert. Die sechs Angeklagten Onur U. (19), Bilal K. (24), Memet E. (19), Hüseyn I.-O. (21), Melih Y. (21) und Osman A. (19) müssen sich seit Montag vor dem Berliner Landgericht verantworten. Sie sollen im Oktober vorigen Jahres den damals 20 Jahre alten Deutsch-Thailänder Jonny K. in der Nähe des Alexanderplatzes zu Tode geprügelt haben.

Bilal K., Onur U., Melih Y. und Osman A. legt die Staatsanwaltschaft Körperverletzung mit Todesfolge zur Last, Memet E. und Hüseyin I.-O. gefährliche Körperverletzung. Ein Tötungsvorsatz konnte den türkischstämmigen Beschuldigten hingegen nicht nachgewiesen werden. Vor dem Seiteneingang des Moabiter Justizgebäudes hat sich eine Schlange von Zuschauern gebildet. Kräftig gebaute Südländer, zumeist Bekannte der Angeklagten, aber auch Freunde des Opfers.

Im Saal 700 sitzen die Beschuldigten im Glaskasten, die Häupter gesenkt, den Blick meist auf den Boden gerichtet. Nur Memet E. darf neben seinem Anwalt Platz nehmen. Auch sein Blick geht nach unten. Vielleicht, damit die mutmaßlichen Täter nicht in das Gesicht von Tina K. sehen müssen, der Schwester des Opfers. Die 28jährige tritt als Nebenklägerin im Prozeß auf, hat sich vorgenommen, an jedem Verhandlungstag dabei zu sein. Sie sitzt in der Mitte des Saales. Drei Angeklagte befinden sich im Glaskasten vor ihr, die anderen drei hinter ihr. Immer wieder dreht sie sich zu Onur U. um, schaut ihm mit eisiger Miene ins Gesicht. U. duckt sich nach unten, versucht den bohrenden Blicken der Frau zu entgehen.

Das hat seinen Grund. Die Brutalität der Täter hatte deutschlandweit Fassungslosigkeit ausgelöst. Sie sollen das Opfer mit zahlreichen Faustschlägen traktiert und den bereits reglos am Boden Liegenden anschließend noch mit Fußtritten gepeinigt haben. Die Empörung steigerte sich noch, als sich zwei der Angeklagten nach der Tat in die Türkei abgesetzt hatten. Einer von ihnen ist Onur U. Wie alle anderen Beschuldigten will auch er aussagen. Über seinen Anwalt läßt er eine Erklärung verlesen. Der Vorsitzende Richter Helmut Schweckendieck läßt U. hierfür aus dem Glaskasten kommen, will ihn während der Aussage genau beobachten. „Wenn Sie sich anständig benehmen, können Sie alle ab dem zweiten Verhandlungstag neben ihren Anwälten sitzen“, verspricht er den Angeklagten.

Onur U. hat sich den Bart abrasiert, trägt ein schwarzes Oberhemd und eine blaue Jeanshose. Tina K. verfolgt mit ihren Augen jeden Schritt des Beschuldigten. U. schreitet mit starrem Gesichtsausdruck am Tisch der Nebenklage vorbei, stets bemüht, den Blickkontakt mit der 28jährigen zu vermeiden.

Er sieht sich selbst als Sündenbock. Die Mitangeklagten würden sich besser untereinander kennen, sich absprechen und die Tat auf ihn schieben. Ja, er habe „zehn bis zwölf Faustschläge gegen einen „schwarzen, aber nicht ganz schwarzen Mann“ ausgeteilt. Jedoch habe es sich dabei nicht um Jonny K. gehandelt, beteuert U. Erst später will er K. regungslos auf dem Boden liegen gesehen haben. „Ich war das nicht“, habe er von Anfang an auch gegenüber den anderen Tatbeteiligten immer wieder beteuert. Mit denen habe er sich einen Tag später getroffen. „Wir müssen uns darüber unterhalten“, seien sich alle zunächst einig gewesen. „Wenn keiner was sagt, kann uns auch nichts passieren“, stimmten sie zunächst ebenfalls überein. „Aber die anderen kannten sich alle besser untereinander, ich kannte die alle nur flüchtig“, meint U. „Ich hatte Panik bekommen, daß sie sich untereinander absprechen und mir alles anhängen.“

Darum habe er sich in die Türkei abgesetzt. Monate zuvor hatte U. noch verlauten lassen, nur seinen Vater auf einen Geschäftstermin begleitet zu haben. Monate waren vergangen, es kam zu einem juristischen Tauziehen, das sich bis auf höchste Regierungsebene erstreckte. Schließlich kehrte U. tatsächlich zurück, stellte sich den Behörden. Richter Schweckendieck bleibt skeptisch, hält dem Angeklagten vor, daß er es gewesen sein soll, der den Streit mit Jonny K. und zwei seiner Freunde angefangen habe. „Was sagen Sie dazu?“ fragt ihn der Richter. Unsicherer Blick von U. in Richtung seines Anwalts. „Tja, also“, beginnt er verlegen, ehe sein Verteidiger einschreitet und darum bittet, erst einmal die anderen Beschuldigten zu hören.

Die erklären sich ebenfalls für unschuldig. „Einer von Ihnen muß es aber gewesen sein“, entgegnet der Vorsitzende Richter. Sollte das Gericht nicht klären können, wer von den Angeklagten für den Tod von Jonny K. verantwortlich ist, könnten möglicherweise alle Beschuldigten auf freiem Fuß bleiben. Mit einem Urteil ist voraussichtlich Ende Juni zu rechnen.

Foto: Onur U. vor dem Berliner Landgericht: Nicht ausgeschlossen, daß am Ende alle Beschuldigten freikommen

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