© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/13 / 17. Mai 2013

O hehrstes Wunder!
Gegen den Strich gebürstet: Richard Wagners Destruktion des Mythos im „Ring des Nibelungen“
Thomas Bargatzky

Nirgendwo im Werk Richard Wagners tritt sein Interesse für alles Mythologische so deutlich hervor wie in der Tetralogie „Der Ring des Nibelungen“. Da dort die Gestalten der germanischen Mythologie auftreten, stricken unbedarfte Kritiker bis heute an der Nachrede von seiner „Germanenverherrlichung“, obwohl doch bereits eine oberflächlichliche Auseinandersetzung mit dem „Ring“ zeigt, daß es mit dieser Welt der Götter und Heroen nicht zum besten bestellt ist.

Man sollte sich daher von Wagners Nähe zur Mythologie nicht täuschen lassen. Im „Ring“ bürstet er nämlich mythologische Themen und Gestalten systematisch gegen den Strich, lenkt die „Stoßrichtung“ der Topoi um und verwendet sie konträr zu ihrer ursprünglichen Bedeutung und gegen ihren eigentlichen Sinn. Diese Destruktion des Mythos entspricht Wagners Gesellschaftskritik: Die Textbücher zu den einzelnen „Ring“-Dramen entstanden zwischen 1848 und 1852, stehen also nicht nur gedanklich, sondern auch zeitlich in der Nähe der Schriften von 1849 „Das Kunstwerk der Zukunft“ und „Das Künstlertum der Zukunft“, in denen Wagner die „Erlösung in den Kommunismus“ in einer neuen Gesellschaftsordnung beschwört, durch die Besitzgier und Egoismus überwunden werden (JF 33/12). Im „Ring“ wird eine kaputte Gesellschaft durch zerbrochene Bilder dargestellt.

Ein Vergleich mit der Welt des echten Mythos läßt die Unterschiede zu Wagners „Kunstmythos“ sofort klar zutage treten. Die Weltentstehungslehren der Völker besitzen ein gemeinsames Grundmuster. Die Welt wurde von Gottheiten in einer Urzeit faktisch und normativ so eingerichtet, wie sie heute ist. Diese Urzeit ist jedoch keine ferne Vergangenheit, sondern sie ist im kultischen Handeln gegenwärtig. Die Zeitstruktur des Mythos ist zyklisch, die von den Gottheiten geschaffene Welt entfernt sich immer wieder von ihrem Idealzustand und muß durch menschliches kultisches Handeln, das die göttlichen Urstiftungstaten realpräsentisch nachstellt, in den Normzustand zurückgeführt werden.

Die Menschen sind dazu aufgerufen, die ihnen von den Göttern überlassene Welt zu erhalten. Erfüllen sie ihre Pflichten gewissenhaft, den mythischen Urbildern folgend, können sie sicher sein, daß ihre Arbeit von Erfolg gekrönt sein wird: Die Zukunft wird sein wie die Gegenwart.

Der Mythos ist daher nicht nur konservativ, er ist positiv und der Welt zugewandt. Er gewährt Zuversicht, obwohl das zyklische Zeitverständnis des mythischen Denkens auch mit den primär indoeuropäischen Vorstellungen von der Wiederherstellung des vollkommenen Urzustandes (apokatastasis) am Ende einer längeren kosmischen Periode vereinbar ist. Dieser „ewigen Wiederkehr“ (Mircea Eliade) kann sogar eine kosmische Katastrophe vorausgehen, wie wir sie zum Beispiel aus den germanischen Helden- und Göttersagen kennen.

Wie geht nun Wagner mit ursprünglichen mythischen Themen um? Der Geschwister-Inzest verweist zum Beispiel auf die heilige Hochzeit (hieros gamos), die in den antiken Hochkulturen dem sakralen König und seiner Schwester vorbehalten war. Der dynastische Zweck dieser Institution war es, durch die Vereinigung des königlichen Geschwisterpaares einen legitimen Nachfolger hervorzubringen, dessen hoher göttlicher Rang von niemandem bezweifelt werden konnte, so daß die Kontinuität der Dynastie und damit des Reiches gesichert war. Im „Ring“ hat Siegmunds und Sieglindes Inzest dagegen einen revolutionären Zweck: Ihr Sohn Siegfried ist der Neue Mensch, der sein Schwert selber schmiedet, der von Wotan ersehnte „Erlöser“ und Überwinder der alten, durch die Bande korrupter Verträge zusammengehaltenen Ordnung.

Der Feuerkreis, den Wotan am Schluß des dritten Akts der „Walküre“ zur Melodie des Siegfried-Motivs mit den Worten „Wer meines Speeres Spitze fürchtet, durchschreite dies Feuer nie“ um Brünnhilde legt, beschwört das Mandala. Dieses Symbol steht für die reinigende Rückkehr zu den Ursprüngen, die Wiederherstellung der Harmonie des Kosmos. Aber im „Ring“ wird Brünnhilde, die sich in eigener freier Entscheidung gegen die Gesetze der Welt Wotans aufgelehnt hat, für Siegfried aufbewahrt, den ersten modernen Mann, „der freier als ich der Gott“ (Walküre III, 3), der seine Macht auf das ohne Hilfe der Götter geschmiedete Schwert stützt. Diese beiden sind berufen, die alte Ordnung abzulösen.

Nicht für Rückkehr, sondern für Fortschritt steht also bei Wagner der Feuerkreis, für die Geburt einer neuen nichtkorrupten Ordnung der Freiheit. Diese Ordnung wird aber nicht geschaffen, weil auch Siegfried dem Fluch des zum Ring geschmiedeten Rheingoldes verfällt. So folgt auch die Gesamtanlage des „Ring“-Zyklus Wagners Inversion der mythischen Sinnbilder. Durch die Mythen der Völker zieht sich nämlich wie ein roter Faden der Gedanke des „Stirb und Werde“.

Der Tod eines göttlichen Wesens der Urzeit beziehungsweise seine Verwandlung schafft die Voraussetzung für die Entstehung der Welt in ihrer heutigen erhaltenswerten Gestalt. Im babylonischen Mythos wurde das weibliche Urwesen Tiamat von Marduk getötet, der aus ihrem Leib Himmel und Erde schuf. Solch göttlichen Personen entspricht im „Ring“ Brünnhilde. Anders als im genuinen Mythos steht ihr Opfertod aber nicht, weltbegründend, am Anfang, sondern am Ende der Zeiten. Die neue Ordnung, die durch Siegfrieds und Brünnhildes Emanzipation von der Welt Wotans gestiftet werden soll, ist, ganz unmythisch, im Entstehen bereits dem Untergang geweiht.

Am Ende der „Götterdämmerung“ ist nichts mehr von Wagners utopischem Sozialismus übriggeblieben. Erst im November 1874 vollendete er die Partitur des letzten Aktes der „Götterdämmerung“, nachdem schon in den Jahren zuvor Schopenhauers Werk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht hatte. Nun war in der Menschenwelt kein Platz mehr für ein Erlöserpaar wie Siegfried und Brünnhilde.

Das Ende bedeutet auch keine apokatastasis, kein Zurück zum „Wiegenlied der Welt“ (Dieter Borchmeyer) in Es-Dur am Anfang von Rheingold. Es bleibt nur die Hoffnung: In „Walküre“ (III, 1) empfängt Sieglinde von Brünnhilde die Teile von Siegmunds zerbrochenem Schwert. Diese Stücke wird dereinst Siegfried aus eigener Kraft neu zusammenfügen. In „größter Rührung“ stimmt Sieglinde zu den Worten „O hehrstes Wunder“ jenes Verheißungsmotiv an, das als Sinnbild für Erlösung und Verwandlung steht und als letztes am Ende der „Götterdämmerung“ erklingt.

Durch die Musik spricht die Hoffnung auf einen Neubeginn, aber der weise gewordene Bayreuther Meister versagt es sich, diese Zukunft mit den Begriffen des Traktats zu beschreiben oder in die Sinnbilder des Mythos einzurücken. Die Botschaft des echten Mythos ist das „Weiter so“; Wagners verfremdete Mythologie hebt dagegen zugleich den Mythos und die gesellschaftliche Welt des 19. Jahrhunderts auf.

Am Schluß des „Ring“-Zyklus hat seine Hoffnung kein Programm mehr. Erst in „Parsifal“ gewinnt sie wieder musikdramatische Gestalt. In die Hoffnung mischt sich freilich Resignation, denn die Burg der Gralsritter liegt ja „In fernem Land, unnahbar euren Schritten“ (Lohengrin III, 3).

 

Prof. Dr. Thomas Bargatzky lehrte bis 2011 Ethnologie an der Universität Bayreuth. Von ihm stammen mehrere, zum Teil auch im Ausland erschienene Aufsätze über das Werk Richard Wagners. Im vergangenen Jahr veröffentlichte die JUNGE FREIHEIT eine dreiteilige Serie von ihm über Wagner und das Ende der Moderne (JF 33–35/12).

Foto: Siegfried erweckt die schlafende Brünnhilde mit einem Kuß, 1882: Die Illustration des US-Amerikaners Howard Pyle (1853–1911) zeigt eine der Schlüsselszenen aus der Oper „Siegfried“, dem dritten Teil von Richard Wagners „Ring“-Tetralogie. Das Erlöserpaar Siegfried und Brünnhilde ist dazu berufen, die alte Ordnung abzulösen. Die neue Ordnung, die durch Siegfrieds und Brünnhildes Emanzipation von der Welt Wotans gestiftet werden soll, ist im Entstehen bereits dem Untergang geweiht.

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