© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/13 / 17. Mai 2013

CD: Caravan Palace
Elektrischer Eklektizismus
Sebastian Hennig

Was die zwanziger Jahre angeblich golden sein ließ, kann nur der vergoldete Grind auf den Narben und Stümpfen gewesen sein, die der Erste Weltkrieg an den Körpern zurückließ. Kaum eine Zeit seit dem Dreißigjährigen Krieg war grauenhafter für die Mitte Europas. Noch im hohen Alter antwortet Ernst Jünger auf die Frage nach dem schrecklichsten Erlebnis des Krieges ohne Zaudern: „Daß wir ihn verloren haben.“ Verloren war die Elite der Völker Europas, die Monarchien gefallen und das Zeitalter des geistlosesten Materialismus unter den Sternen und Streifen dämmerte herauf.

In Wien entfalteten sich in den Jahrzehnten zuvor reizvolle Sumpfblüten. Der Walzertakt des Fin de siècle, die „Koituskultur“ (O. Weininger) eines Schnitzler, Bahr, Schiele und Klimt, die mürbe Dämonie eines Kubin: Damit wallte in feierlicher Breite ein Lebensgefühl dem Abgrund zu. 1914 wurde alles in den Strudel aus Stahl und Blut gerissen. Daß an den Rändern dieses Mahlstroms ab und an etwas Schönes ankreiste, bevor es für immer in die Tiefe stürzte, läßt die Hinrichtung der Schönheit an sich nicht festlich werden.

Vieles ist vergangen, aber die Untergangsfühligkeit scheint sich in der Stadt an der Donau erhalten zu haben. So wurde Wien zu einem Zentrum des Elektroswing. Mit Musikern wie Parov Stelar und Waldeck verbindet sich jene House-Music mit gesampelten Swing- und Jazz-Partikelchen, deren forttreibender Beat erneuter Zuspitzung der Krise entspricht. Dem Abkömmling jener Scheinwirtschaft, die Kriege und Hungertod braucht, um zu wuchern und zu leben, entspricht die Zuspitzung ihres alten Soundtracks. So nennt sich auch die zweite Platte der französischen Electro-Swing-Band Caravan Palace „Panic“.

Der einzige eigenständige vollgültige Beitrag zum Jazz, der Zigeuner-Gitarrist Django Reinhardt und der Hot Club de France, mit dem Geiger Stephe Grappelly gehören zu den akustischen Ahnen dieser Musik voll verdächtiger Ausgelassenheit. Auf deren alten Platten ist zu hören, daß inflationsbereinigt der „Tiger Rag“ des Quintette de Hot Club weit schneller und härter wirkt. Die Rhythmik der alten Kapelle klingt noch monotoner als das Gewaber der Roland-Synthesizer. Caravan Palace besteht aus sechs Musikern, die neben der Programmierung, Violine, Trombone, Klarinette, Gitarre und Baß spielen.

Die Electro-Swing-Partys gleichen Kostümfesten unter dem beflügelnden Motto „Schwarzer Freitag“ und breiten sich zur Zeit in unseren Städten aus. Charleston-Kleider, Federboas, fantastische Hauben bei den Damen und Lackschuhe, Frack, Zylinder und Fliege bei den Herren gehören zur Anzugsordnung. Die Betäubung der Physik der tanzenden Leiber zu überlassen, statt sie der Chemie der Halluzinogene auszuliefern, scheint das erklärte Ziel der Zusammenkünfte.

Ein Videoclip zu „Rock It For Me“ zeigt in einer perfekten monochromen Animation, wie die Welt als riesiger Lunapark durch einen Schwarm von Flugscheiben angegriffen wird. Die lassen aus ihrer Mitte riesige Bälle niedergehen. Ein blecherner Tanzroboter rockt diese Bedrohung. Im Schlußbild schwingt er sich den Eiffelturm hinan, wie weiland King Kong das Empire State Building. Der Himmel über der tanzenden Masse hat sich ironisch verfinstert.

Caravan Palace, Panic Embassy Of Music (Warner), 2012

http://embassyofmusic.de
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