© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/13 / 17. Mai 2013

Der tödliche Tsunami des Bomber-Harris
Vor 70 Jahren: Eine Spezialeinheit der britischen Luftwaffe zerstört deutsche Talsperren mit weit über tausend zivilen Opfern durch die Flutwellen
Egon W. Scherer

Zehntausende Bewohner der Flußtäler von Ruhr, Eder, Fulda und Weser erlebten vor siebzig Jahren den Schrecken einer Sintflut mitten im Binnenland: In der Nacht zum 17. Mai 1943 zerbombte ein Spezialkommando der britischen Luftwaffe die Staumauern der Möhne- und der Edertalsperre. Die Briten gaben diesem Einsatz den zynischen Namen „Unternehmen Züchtigung“, und zweifellos war es auch ein Teil des gegen die Zivilbevölkerung gerichteten moral bombing, wenngleich nach ursprünglichen Plänen die deutsche Rüstungsindustrie getroffen werden sollte.

Das nächtliche Präzisionsbombardement, das außer dem Möhnedamm auch den Talsperren an Eder, Sorpe und Ennepe galt, war als tödlicher Schlag gegen Deutschlands Waffenschmiede an der Ruhr gedacht und bildete den Höhepunkt der Battle of the Ruhr, einer Serie von Großangriffen des Bomberkommandos der Royal Air Force vom März bis Juli 1943 auf Städte an Rhein und Ruhr. Nach Angriffen auf Essen, Duisburg, Dortmund, Düsseldorf, Bochum und Aachen verwüstete am 29. Mai ein einziger Angriff achtzig Prozent des Stadtgebietes von Wuppertal. Die Menschen an der Ruhr entsetzten sich, kaum daß sie den Schock der Möhne-Katastrophe verwunden hatten, wochenlang über das schreckliche Sterben vieler Menschen im Feuersturm der Phosphorbomben, die Wuppertal verbrannt hatten.

Die Möhne- und Sorpetalsperre regelten etwa zwei Drittel der Wasserspeicherungskapazität des Ruhrgebietes. Gelänge die Zerstörung dieser Talsperren, würden die darin festgehaltenen Wassermassen entfesselt und es wären nicht nur umfangreiche Verwüstungen in dieser Industrielandschaft die Folge, sondern voraussichtlich würde auch monatelang die Wasserversorgung zahlreicher Rüstungsfabriken ausfallen, die alle enorme Wassermengen für ihre Produktion benötigten, so Pläne britischer Militärs, die dem Historiker Helmut Euler zufolge bis ins Jahr 1937 zurückreichen.

Ausgeführt wurde die Aktion „Chastise“ („Züchtigung“) von einer Spezialeinheit, deren viermotorige Lancaster-Maschinen „Rollbomben“ ins Ziel trugen, die man eigens für diesen Einsatz konstruiert hatte. Diese monströsen, faßförmigen Sprengkörper von 4,2 Tonnen Gewicht wurden unter den dafür umgebauten Flugzeugen aufgehängt und vor dem Abwurf in rotierende Bewegung versetzt. Die Bombe konnte, richtig abgesetzt, die stählernen Sperrnetze vor dem Staudamm überspringen, sank dann nach dem Aufprall auf die Mauer zunächst nach unten, um schließlich in zehn Metern Tiefe mit Hilfe eines hydrostatischen Zünders zu explodieren.

Am 17. Mai 1943, kurz nach Mitternacht, erreichen acht Lancasters der Einheit den Möhnesee. Eine der Maschinen ist schon unterwegs verlorengegangen. Die Talsperre, mit etwa 135 Millionen Kubikmetern Inhalt das wichtigste Wasserreservoir des Ruhrgebietes, ist nur durch sechs leichte Flakgeschütze mit Kaliber zwei Zentimeter gesichert, deren Abwehrfeuer eines der Feindflugzeuge vom Himmel holt. Die Briten fliegen fünf Angriffe auf die Sperrmauer, doch erst der fünfte gelingt. Um genau 49 Minuten nach Mitternacht birst der Staudamm der Möhnetalsperre – so haben es die seismischen Geräte der Universität Göttingen festgehalten. 9.000 Kubikmeter Wasser pro Sekunde schießen unter Hochdruck aus der bald auf siebzig Meter Breite aufbrechenden Bresche.

Im Möhnetal und im anschließenden Ruhrtal ereignet sich der Weltuntergang. Siebzig bis achtzig Kilometer weit fegt die Flutwelle durch das Tal, erreicht noch Witten und Hattingen, läuft erst am hundert Kilometer entfernten Baldeneysee bei Essen aus. In der Stadt Neheim-Hüsten, wo die Möhne in die Ruhr mündet, sterben viele Menschen in den Luftschutzkellern. Sie haben das Heulen der Sirenen nicht als Katastrophenalarm, sondern als Fliegeralarm gedeutet. Gegen zwei Uhr morgens überrascht die Todesflut in der Ruhrstadt Wickede viele Menschen im Schlaf. 118 Menschen sterben. Das 119. Opfer wird ein Frontsoldat sein: Wegen der Katastrophe auf Sonderurlaub heimgekehrt, erschießt er sich am Grabe seiner in den Fluten umgekommenen Familie.

Auch der Angriff der dam busters (Dammknacker) auf die Edertalsperre im hessischen Waldeck gelingt. 160 Millionen Kubikmeter Wasser strömen aus, aber hier begrenzen Landschaft und dünnere Besiedlung die Wirkung. Immerhin werden auch hier Täler überschwemmt, Dörfer zerstört, Eisenbahnlinien unterbrochen und mindestens siebzig Menschen getötet. Der wichtige Sorpe-Staudamm aber übersteht den Luftangriff, ebenso die Ennepe-Talsperre. So bleiben dem Ruhrgebiet noch immer genügend Wasserreserven, um den Sommer zu überbrücken. Im Herbst läuft auch der Möhnesee wieder voll: Rüstungsminister Speer hat 7.000 Arbeiter der „Organisation Todt“ von den Baustellen des Atlantikwalls abgezogen und in der Rekordzeit von 78 Tagen die Staumauer repariert.

Das Ziel, die industrielle Rüstung im Ruhrgebiet zu tangieren, insbesondere in Dortmund, Hagen und Bochum, wurde durch die Zerstörung und den Ausfall von Wasser- und Elektrizitätswerken im Ruhrtal nur bedingt erreicht. Es kam lediglich zu mehrtägigen Produktionsausfällen. Allerdings beeinträchtigte der Ausfall einiger Zulieferbetriebe im Zerstörungsgebiet die Rüstungsproduktion. Auch die Wasserversorgung blieb einige Wochen lang beeinträchtigt, was unter anderem die Löscharbeiten bei dem schweren Bombenangriff auf Dortmund am 25. Mai behinderte. Bis in den Juli 1943 konnten diese indirekten Angriffsfolgen aber vollständig beseitigt werden. Massive Schutzvorrichtungen machen einen neuen Tiefangriff nach altem Rezept unmöglich.

Bilanz der Todesnacht für das Möhne-Ruhr-Tal: mindestens 1.294 Todesopfer, darunter 749 Ausländer, zumeist Fremdarbeiterinnen aus der Ukraine, die in einem von den Fluten zerstörten Barackenlager bei Neheim-Hüsten untergebracht waren. Andere Zahlen sprechen von 1.579 Opfern, darunter über 1.000 Kriegsgefangene. Mehr als 1.100 Häuser und Höfe sowie 125 Fabriken werden zerstört, 15 Kraftwerke und 25 Wasserwerke außer Betrieb gesetzt, 30 Kilometer Eisenbahnlinie und zwei Bahnhöfe weggerissen. Die Zerstörung und der Ausfall von Wasser- und Elektrizitätswerken im Ruhrtal führten zum Beispiel in den benachbarten großen Rüstungsstandorten Dortmund, Hagen und Bochum zu mehrtägigen Produktionsausfällen.

Die britische Presse veröffentlichte ausführliche Artikel mit oft großformatigen Luftaufnahmen über die Aktion. Sogar für Karikaturisten war die Schreckensnacht ein Thema. In der englischen Zeitung Punch erschien eine Zeichnung, auf der eine um Hilfe schreiende Gruppe von Frauen abgebildet war, mit dem höhnischen Untertitel „The song of the Ruhr“. Die britische Spezialstaffel 671 aber erhielt nach diesem Einsatz ein Wappen, den diese Dambusters trotz der vielen zivilen Opfer noch heute mit Stolz führen. Der Wahlspruch lautet: „Nach mir die Sintflut“.

 

Rezeption in der Forschung

Die opferreichen Angriffe auf die Talsperren von 1943 wurden in der regionalen Erinnerungskultur umfangreich berücksichtigt. So hat der Lokalhistoriker Fritz Schumacher 1969 erstmals eine größere Monographie zur „Möhne-Katastrophe“ zusammengestellt, die aber keine überregionale Aufmerksamkeit erreichte. Dies gelang erst Helmut Euler, Heimatforscher und Fotograf aus Werl, mit seinem 1975 erschienenen Werk „Als Deutschlands Dämme brachen“, das bis heute vierzehn Auflagen erfahren hat. Er benutzte zudem auch britische Quellen, um Planung und direkte Vorbereitung des RAF-Angriffes zu beleuchten.

Die Bilddokumentation „Die Sintflut im Ruhrtal“ von Gerhard Hallen und Joachim Ziegler hat 1983 die vom ehemaligen Leiter des Schwerter Ruhrtalmuseums, Josef Spiegel, nach der Katastrophe aufgebaute Foto- und Dokumentensammlung aufbereitet. Eine umfangreichere wissenschaftliche Studie des Dramas von 1943 ist darüber hinaus in Deutschland bis heute nicht erfolgt.

Lediglich in Großbritannien hat John Sweetman, Militärhistoriker an der Royal Military Academy in Sandhurst, die britische Überlieferung in seinem Buch „The Dams Raid – Epic or Myth?“ untersucht. Ähnlich wie die populärwissenschaftlichen Werke „Men who breached the Dams“ von Alan Cooper (1993) und „The Dambusters“ von Sweetman, David Coward und Gary Johnstone (2003) fokussiert diese Darstellung aber eher die britische Angriffstaktik.

Kriegsrechtliche Aspekte jenes Luftschlags, der den massenhaften Tod von Zivilisten verursachte, wurden bisher nicht untersucht. Jene Forschung stellt bis heute ein Desiderat dar.

Foto: Blick auf die Reste des fast völlig zerstörten Dorfes Affoldern, wenige Kilometer hinter der Sperrmauer des Edersees: Am 17. Mai 1943 wurden die Staumauern der Eder- und Möhnetalsperren durch Bomben der britischen Luftstreitkräfte zerstört. In den Flutwellen kamen mindestens 1.200 Menschen ums Leben, viele Dörfer und Städte wurden zerstört

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