© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/13 / 17. Mai 2013

Ein sichtbares Zeichen gegen das Vergessen
Zwölf Vertriebene aus Ostdeutschland erzählen in einem Sammelband ihr Schicksal nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs
Franz Gissau

Hans Mirtes und Gerolf Fritsche haben sich in einem weiteren Buch dem Thema Vertreibung nach 1945 gewidmet. Sie lassen zwölf Zeitzeugen berichten, wie sie nach schlimmsten Erlebnissen nach Ende des Zweiten Weltkrieges ihr Leben gemeistert haben bzw. ihre Angehörigen es hingeben mußten. Die Berichte sind sorgsam aufgezeichnet. Sie zeigen damit, wie klar und sogar lebhaft unter den letzten der Erlebnisgenerationen die Erinnerungen an die Zeit der Bedrängnis und der Lebensentscheidungen um das Jahr 1945 noch vorhanden sind.

Dieses Buch ist als Folgeband des Vorgängers „65 Jahre – Zivildeportation und wilde Vertreibung der Deutschen aus der CSR 1945“ zu verstehen und erweitert den Blick auf sämtliche Vertreibungsgebiete, vom Memelland in Ostpreußen über Pommern, Schlesien, das Sudeten- und Karpatenland bis Siebenbürgen und berücksichtigt in einem Beitrag sogar das Schicksal der Deutschen aus Rußland. Dadurch hat sich der Umfang des Werkes verdoppelt und umfaßt nun 350 Seiten. Es soll zeigen, wie sehr die Vertreibung einerseits ein gemeinsames deutsches Schicksal war, andererseits aber dokumentieren, wie verschieden sie sich in den einzelnen Regionen auswirkte.

Auch wenn die Zeitzeugen immer wieder von schwersten Schicksalen erzählen, vermitteln sie doch auch Zuversicht. Die Reihe der Zeitzeugen eröffnet Walter Perkams aus Plicken bei Memel. Er schildert, wie die Flucht 1945 mißlingt, weil die Familie die Memelbrücke bei Tilsit nicht mehr erreicht, der Vater von Partisanen erschossen wird und die Mutter die vielköpfige Familie durch die Nachkriegszeit bringt. Erst 1958 gelingt die Ausreise in die Bundesrepublik.

Maria Pekarš schildert, wie sie – obwohl sie von der Mutter beim Brünner Todesmarsch getrennt und der Vater in die Sowjetunion verschleppt wurde – beide nach zwei Jahren in Brünn glücklich wiederfindet. Außerdem belegt Maria ihren Bericht mit zahlreichen Dokumenten, die diese Odyssee eindringlich veranschaulichen.

Ein Bericht stammt von der Ukrainerin Nadeschda Gilmanowa, einer sowjetischen Staatsbürgerin also, die ins Deutsche Reich deportiert wird. Als Zwangsarbeiterin im Reich hat sie als Dienstmädchen ein leidliches Auskommen. Gefährlich wird es erst, als die Landsleute sie im Mai 1945 befreien. Sie siedelt sich später mit ihrer jungen Familie im nördlichen Ostpreußen in Königsberg an. Nadeschdas Stimme ist eine, die in der Bundesrepublik bisher kaum hörbar war. Insofern bietet das Buch auch Neues im Chor der Zeitzeugen.

Zu den bewegendsten Schicksalen gehört wahrscheinlich jene von Alma Jelittes über die ersten Weihnachten 1945 in der Fremde in Mecklenburg in einer Zeit größter Not. Die Schlesier und ihre Mitwohnenden, die diese Weihnachten damals im Norden Deutschlands feierten, haben dieses trostlose Fest sicher ihr Leben lang nicht vergessen.

Ihren Berichten haben die Autoren neben Bildern und Dokumenten Karten zum besseren Verständnis beigegeben. Darüber hinaus befinden sich am Ende des Buches zwei einzigartige farbige Faltkarten mit erläuternden Texten: „Deutsche Vertriebene zwischen 1945 und 1950 sowie Vertriebene und Umsiedler in Polen und Ostpolen“ und zum anderen „Siedlungs- und Verschleppungsgebiete der Deutschen in Rußland bis zum Jahr 2000“. Das Buch schließt mit dem Text der Charta der Heimatvertriebenen vom August 1950. Adolf Fiedler hat zu diesem Text eine zeitgemäße Würdigung verfaßt.

Das Buch ist nicht nur Kennern der Vertreibungsgeschichte zu empfehlen, denen die große fünfbändige, von der Bundesregierung in den fünfziger Jahren angelegte „Dokumentation der Verteibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa“ vertraut ist, die es mindestens um zwölf bemerkenswerte ostdeutsche Schicksale ergänzt.

Hans Mirtes, Gerolf Fritsche (Hrsg.): Flucht, Vertreibung, Ansiedlung, Integration – Vertriebene erzählen ihre Schicksale. AGSLE-Verlag, Frontenhausen 2012, gebunden, 347 Seiten, 17 Euro

Foto: Eine Gruppe Vertriebener zieht 1946 durch ein Dorf in Ostpreußen: Neues im kleiner werdenden Chor der Zeitzeugen

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