© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  22/13 / 24. Mai 2013

Trotz Demokratie hinkt Indien China weiter hinterher
Mythos und Alptraum
Jens Jessen

Der neue chinesische Premier Li Keqiang strotze vor Selbstbewußtsein bei seiner ersten Auslandsvisite in Indien. Vor vier Jahren wurde Deutschland als Exportweltmeister abgelöst. Trotz aller Probleme sind Lebenserwartung und Durchschnittseinkommen im Vergleich zur Mao-Zeit enorm gestiegen. Infrastrukturprojekte werden in Rekordtempo vollendet – aber all dies passiert ganz ohne Demokratie für das Milliardenvolk.

Daher weckt Indien, die größte Demokratie der Welt, im Westen mehr Sympathien. Auf dem Papier stehen indische Frauen besser da als ihre Geschlechtsgenossinnen in anderen Schwellenländern. Die indische Verfassung schreibt sogar eine 33-Prozent-Quote von Frauen in Kommunalparlamenten vor. Über eine Million Gemeindeposten sind von Frauen besetzt. In der Praxis wird die weibliche Bevölkerung dennoch oft als zweitklassig angesehen.

Ob im Ehe- und Sorgerecht, bei Erbschaften und sogar am Arbeitsplatz – ihre Rechte werden durch Familie oder Ehemänner eingeengt. Die Medienberichte über Vergewaltigungen sind nur die Spitze des Eisbergs: Alle drei Minuten wird in Indien eine Straftat an einer Frau begangen. Alle neun Minuten wird eine Frau von ihrem Ehemann oder Verwandten gequält. Die Kindersterblichkeit hat zwar rapide ab- und die Lebenserwartung zugenommen. Doch die Armut steigt, da neue Arbeitsplätze nicht so schnell geschaffen werden können, wie die Bevölkerung wächst: inzwischen sind es über 1,2 Milliarden, noch in diesem Jahrzehnt wird China überholt.

Ein verbreiteter Nepotismus führt bei der Stellenvergabe oft zu Fehlbesetzungen. Damit wird die Wettbewerbsfähigkeit ausgebremst – zur Freude Chinas, aber auch der Industrie in Europa. „Made in India“ ist ein Synonym für billig und drittklassig. In den Städten ist die Armut offenkundiger als auf dem Land. Zu der oberen und mittleren Mittelschicht werden 200 Millionen Inder gezählt, 400 Millionen gehören zur unteren Mittelschicht. Aber 200 Millionen sind überhaupt nicht an die Geldwirtschaft angeschlossen – eine tickende Zeitbombe.

Das hinduistische Kastensystem ist zwar offiziell abgeschafft, doch im ländlichen Alltag hat es überlebt. Wer mit wem zusammen essen darf oder wer wenn heiraten kann, wird wie eh und je nach altem Brauch behandelt. Die Brahmanen als Studierende und Lehrende stehen an höchster Stelle, die Kshatriyas als Krieger an zweiter, gefolgt von den Vaishyas als Viehzüchter und Händler und den Shudras als Handwerker.

Die Sozialstrukturen bestimmt das Kastensystem nur noch begrenzt. Es wird in den Städten von ökonomisch determinierten Klassenstrukturen überlagert. Und mit über 150 Millionen hat das indische Vielvölkerreich die drittgrößte moslemische Bevölkerung der Welt. Und ohne politische Stabilität wird die wirtschaftliche Aufholjagd erst recht nicht gelingen.

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