© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  22/13 / 24. Mai 2013

Die Frau ohne Schatten
Ein neues Buch über Angela Merkels DDR-Herkunft bleibt oberflächlich
Thorsten Hinz

Angela Merkel ist ein Phantom. Nicht zu greifen, aber wirksam und real. Merkel treibt die SPD zur Verzweiflung und die CDU-Konservativen zur Weißglut. Sie genießt Zustimmungswerte, die erklärungsbedürftig sind. Denn außer der Fähigkeit zum Machterhalt hat sie kaum etwas vorzuweisen. Die Belastung durch Steuern und Abgaben steigt und steigt, und gleichzeitig explodiert die Verschuldung der öffentlichen Hand. Mit der Energiewende hat sie eine industriepolitische Geisterfahrt begonnen. Die europäische Schuldenunion erscheint unausweichlich.

Wenn die Bundesrepublik dennoch besser dasteht als die Nachbarn, ist das den Reformen ihres Vorgängers zu verdanken. Merkel fordert „mehr Europa“, aber kann nicht erklären, was sie damit außer der Aufblähung des Brüsseler Molochs meint. Wahrscheinlich nichts. Ihre Rhetorik erschöpft sich im Büroklammer-Deutsch: „Marktgerechte Demokratie“, „alternativlos“, „nicht hilfreich“ beziehungsweise „nicht akzeptabel“, lauten ihre sprachlichen Höhepunkte.

Um die eigene Ratlosigkeit zu verschleiern, nennen manche Kritiker sie eine Sphinx. Für Gertrud Höhler ist sie eine „Patin“ und die „Fremde aus Anderland“. Eine Spionin quasi, die aus der Kälte kam, um die CDU und die Bundesrepublik zu verderben! Oder ist sie doch bloß eine Frau ohne Schatten, wesenlos, die sich deshalb als Projektionsfläche eignet?

Ralf Georg Reuth und Günter Lachmann wollten ihr Geheimnis ergründen, indem sie Merkels DDR-Herkunft erkundeten. Ihr Buch „Das erste Leben der Angela M.“ ist keineswegs so schlecht, wie es von den Medien gemacht wird, aber es bleibt oberflächlich.

Dem längst Bekannten haben die Autoren einige Details hinzugefügt. Daß sie bei ihren Recherchen auch auf die Broschüre „System Merkel“ des JF-Reporters Hinrich Rohbohm zurückgegriffen haben, ist zwar mehr als offensichtlich; erwähnt haben sie das freilich nicht.

Merkel ist die Tochter des DDR-affinen Pfarrers Horst Kasner – des „roten Kasner“ –, der am real existierenden Sozialismus allmählich verzweifelte. Eine Einser-Abiturientin mit glänzenden Russisch-Kenntnissen und Aufenthalten in der Sowjetunion, die sich mehrmals in FDJ-Funktionen wählen ließ. 1989 habe sie noch, wie die Autoren monieren, an eine reformierbare DDR geglaubt anstatt – wie sie später verbreitet hat – an die deutsche Einheit. Ihre DDR-Biographie, legen Reuth und Lachmann nahe, sei von moralischer Indifferenz geprägt gewesen. Nun ja. Als Totalverweigerin hätte sie wohl Krankenpflegerin, Bürgerrechtlerin und Landes-Stasibeaufragte werden können, aber keine promovierte Akademikerin und Bundeskanzlerin. Statt ihrer säßen dann Christian Wulff oder Günter Oettinger im Kanzleramt. Und? Wäre das besser?

Das ist die Schwäche des Buches: Es moralisiert, wo es historische und politische Analysen liefern müßte. Zum Beispiel zur Herkunft und Genese des linken Schuldprotestantismus, dem der Vater anhing. Oder zum Kirchenkampf in den fünfziger Jahren, in dessen Verlauf die Kirche einsehen mußte, daß der SED-Staat stärker, die offene Konfrontation sinnlos war. Das hätte zu der Frage führen können, wie die Erfahrungen des Vaters sich der Tochter mitgeteilt haben. Angela war ein braves Mädchen aus dem protestantischen Pfarrhaus, keine rebellische Gudrun Ensslin. Ihre DDR-Jahre verliefen so unaufgeregt, daß Reuth und Lachmann selber erstaunt sind. Die Autoren haben viel recherchiert, aber wenig begriffen.

Laut dem Soziologen Wolfgang Engler hatten die DDR-Bürger viel Kreativität entwickelt, um den Mangel und Anpassungsdruck im Alltag zu bewältigen, aber keine politische Phantasie. Die endete beim Reformsozialismus, der sich im übrigen Ostblock schon mit dem sowjetischen Einmarsch in Prag 1968 erledigt hatte. Dafür gab es einen einfachen Grund: Für die DDR war die ideologische Abgrenzung zur Bundesrepublik die Grundbedingung ihrer Existenz. Ein zweiter bürgerlicher Staat in Deutschland hätte umgehend die Frage nach der Wiedervereinigung aufgeworfen. Doch niemand konnte sich vorstellen, daß die Sowjetunion ihre wichtigste Kriegsbeute herausgeben würde.

Die Autoren erinnern daran, daß der KGB, Teile der Stasi und der SED daran beteiligt waren, in der DDR die 1989er-Wende in Gang zu setzen. Oppositionelle Wortführer der ersten Stunde stellten sich als Informelle Mitarbeiter heraus, darunter frühe Förderer Merkels. Sensationell ist das nicht, denn spätestens seit dem 17. Juni 1953 war jedem klar, daß Veränderungen in der DDR nur möglich waren, wenn Moskau sich einen Nutzen davon versprach, sie duldete oder veranlaßte. Ende der achtziger Jahre war es soweit. Das altersstarre SED-Politbüro sollte durch eine flexiblere Führung ersetzt werden, um Unterstützung für den Reformer Gorbatschow zu organisieren. Das Verfahren lief jedoch aus dem Ruder, und mit dem Mauerfall waren die Pläne endgültig Makulatur geworden.

Wer die moralische Qualität eines DDR-Bürgers daran mißt, ob er von Anfang an für Anschluß an den Westen war (oder eher nicht), verkennt die Verhältnisse. Nach Jahrzehnten der Fremdbestimmung hatten viele Menschen in der DDR zunächst das Bedürfnis nach Selbstbesinnung und selbständiger Reflexion der Lage. Merkels Zögern spricht eher für als gegen sie!

Es währte nur kurz, viel kürzer als bei den meisten. Denn Merkel hatte in der DDR eine untrügliche Witterung für die Machtverhältnisse entwickelt, gepaart mit einer enormen Abgebrühtheit. Ihrer alten Partei, dem Demokratischen Aufbruch, kehrte sie schlagartig den Rücken, als die CDU zur dominierenden Kraft geworden war. Genauso schlagartig wurde aus der Reformsozialistin eine glühende Befürworterin der Marktwirtschaft. Im Unterschied zu den Bürgerrechtlern hat Merkel die Macht nie geniert. Sie hob sie auf, wo andere sie liegenließen.

Bleibt die Frage nach ihren Inhalten. Merkels armselige Rhetorik gibt einen Hinweis, daß sie die politische Phantasielosigkeit aus DDR-Zeiten nie überwunden hat. Zusammen mit dem taktischen Geschick und dem absoluten Machtinstinkt bildet sie ihr doppeltes DDR-Erbe – das sich in der Bundesrepublik als wunderbar anschlußfähig erweist! Offenbar hatten (und haben) die DDR und die Bundesrepublik viele untergründige Gemeinsamkeiten.

Lesenswert sind bis heute die Provinzialismus-Glossen, die der ehemalige Merkur-Herausgeber Karl Heinz Bohrer 1990/91 verfaßte. Für Bohrer verkörpert die bundesdeutsche Politik eine Tautologie des Produzierens und Konsumierens, ergänzt um „winselnde Harmlosigkeit“ und weinerlichen Moralismus. „Politik ist geschrumpft zur Ökologie und technisch-wirtschaftlicher Hygienik, kein Gedanke an politisch-strategische Verantwortlichkeiten, kein Gedanke an politisch-strategische Verantwortlichkeiten jenseits der bundesrepublikanischen Grenzen.“

Denn wie in der DDR lag die letzte Verantwortlichkeit außerhalb – bei den USA. Die bequeme Abwesenheit souveräner Politik, die das Risiko der Entscheidung einschließt, und die Abneigung ihr gegenüber haben die kollektive Mentalität dauerhaft geprägt. Merkel personifiziert diese Haltung in reiner Form – was ihre Beliebtheit erklärt – und treibt die Entpolitisierung mit dem Argument der Alternativlosigkeit auf die Spitze. Durch sie kommt das bundesdeutsche Staatswesen so ganz zu sich selbst.

Ralf Georg Reuth, Günther Lachmann: Das erste Leben der Ange-la M. Piper Verlag, München 2013, gebunden, 336 Seiten, Abbildungen, 19,99 Euro

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen