© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  22/13 / 24. Mai 2013

Genauso war’s! – So war das also!
Literatur: Birk Meinhardts Roman „Brüder und Schwestern“ erschöpft sich in einem Bilderbogen mit den Pflichtstationen der DDR-Normalität
Thorsten Hinz

Auch literarisch beherrscht die DDR die Bundesrepublik. Uwe Tellkamps „Turm“ (JF 43/08) überragt die Romanproduktion der letzten fünf oder zehn Jahre, und Eugen Ruge erhielt 2011 für den Roman „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ den Deutschen Buchpreis. Nun hat der frühere Sportjournalist Birk Meinhardt, geboren 1959 in Ost-Berlin, einen 700-Seiten-Roman vorgelegt, der 2013 gleichfalls für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert worden ist.

Nach dem Dresdner Bildungsbürgertum im inneren Exil und der mittleren Nomenklatura stehen nun ganz normale Leute aus der thüringischen Provinz im Fokus. Gerberstedt heißt ihr fiktives Städtchen, was an Gerbersau, Hermann Hesses württembergisches Seldwyla, erinnert. DDR-geschulte Ohren hören bei „Brüder und Schwestern“ auch „Verwandte und Bekannte“ von Willi Bredel heraus, ein mehrbändiges Familienepos im Stil des sozialistischen Realismus, dessen Handlungsbogen vom Kaiserreich bis in die DDR reicht. Meinhardts Buch setzt 1973 ein und endet 1989. Rückblenden führen bis in die Weimarer Republik.

Die Familie Werchow also. Willy, das Familienoberhaupt, leitet einen Druckereibetrieb. Neben seiner Frau und den drei ehelichen Kindern Britta, Erik und Matti hat er eine Geliebte und ein uneheliches Kind. Seine Frau Ruth arbeitet bei der Sparkasse. Sie war 1945 von den Russen vergewaltigt worden, bevor sie in Gerberstedt strandete. Als der Liedermacher Wolf Biermann im November 1976 ausgebürgert wird, heftet die aufmüpfige Britta ein Biermann-Gedicht an die Schulwandzeitung. Sie wird von der Oberschule verwiesen, geht zum Zirkus, wo sie sich nicht wohlfühlt. Der introvertierte Matti wird Binnenschiffer und schreibt einen Roman, der nur im Westen erscheinen kann. Erik macht Karriere im Außenhandel, paßt sich an, lehnt eine IM-Tätigkeit jedoch ab.

Der Roman enthält alle Ingredienzen, die die DDR-Normalität ausmachten: Am Anfang steht die obligate Beerdigung, zu der die von den Grenzern schikanierte Westverwandtschaft verspätet eintrifft. In der NVA geben die höheren Diensthalbjahre die erfahrene Brutalität weiter, indem sie die Jüngeren drangsalieren. Die Mangelwirtschaft kommt vor und das heimliche Treffen mit den ausgereisten Freunden in Prag. Wer die DDR erlebt hat, darf bei jedem Umblättern ausrufen: Genauso war’s! Und wer nur den Westen kennt: So war das also!

Ein Bilderbogen mit den Pflichtstationen der DDR-Normalität, dessen Erinnerungs- und Wiedererkennungswert beträchtlich ist. Doch darin erschöpft er sich auch schon. Der Autor hat die Gefahr gespürt und Passagen eingeführt, in denen er die tiefere Absicht und Bedeutung eines Gesprächs, einer Szene, einer Konstellation erklärt. Der sozialistisch-realistische Schulmeister läßt grüßen. Oder stand die Absicht dahinter, das Genre des deutschen Bildungs-, Entwicklungs- und Gesellschaftsromans zu parodieren wie Günter Grass in der „Blechtrommel“? Diese Absicht wurde verfehlt! Wenn Erik über sein „nicht sonderlich aufregendes “ Leben sinniert, „es war (doch) bei weitem auch keines, das ihm unerträglich schien, es vollzog sich beinahe ohne sein Zutun“, dann wirkt das nicht parodistisch, sondern bloß ungelenk. Im „Fremden“ von Camus oder im „Tangospieler“ von Christoph Hein (erschienen 1989 in der DDR!) wird die Entfremdung nicht nur behauptet, sondern in den Erzählmodus eingeschrieben und für den Leser damit zum Anlaß der Selbsterkenntnis und -reflexion.

„Brüder und Schwestern“ ist ein sympathisches, aber kein wirklich gutes Buch. Der geplanten Fortsetzung ist ein Qualitätssprung und straffes Lektorat zu wünschen. Nebenbei: Das beste Werk der letzten Jahre, das den DDR-Alltag zeigt, ist der Film „Barbara“ von Christian Petzold. Und der ist ein „Wessi“!

Birk Meinhardt: Brüder und Schwestern. Die Jahre 1973–1989. Carl Hanser Verlag, München 2013, gebunden, 700 Seiten, 24,90 Euro

Foto: Ein Thälmannpionier bindet am 8. Mai 1977 einem sowjetischen Soldaten ein rotes Halstuch um in Berlin anläßlich des „Tages der Befreiung“: Der sozialistisch-realistische Schulmeister läßt grüßen

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