© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  22/13 / 24. Mai 2013

Guerillero gegen die Pathologie der Moderne
Aphoristiker der Reaktion: Vor hundert Jahren wurde der kolumbianische Schriftsteller Nicolás Gómez Dávila geboren
Felix Dirsch

Nachdem sich im 20. Jahrhundert sogar die Modernekritik in nicht wenigen Fällen – siehe etwa Theodor W. Adornos und Max Horkheimers berühmte Schrift „Dialektik der Aufklärung“ – moderneaffin gab, ist es nicht überraschend, daß unter solchen Bedingungen kaum jemand als „reaktionär“ gelten will. Erfreulicherweise existieren Ausnahmen, die sich dieses pejorative Prädikat selbst ans Revers heften.

Zu den einsamen Rufern in der Wüste zählt der Kolumbianer Nicolás Gómez Dávila. Er reagierte als Reaktionär auf die negativen Seiten des Fortschritts und propagierte Aufklärung über die Aufklärung und versuchte deren Folgen sowie Voraussetzungen zu erhellen. Es ging ihm nicht, wie fälschlicherweise oft gemeint, um das Lob des Rückschritts, sondern er wollte „Vergessenes wieder in die Erinnerung“ bringen (Botho Strauß). Die – aus seiner Sicht – verkürzte Vernunft der Neuzeit findet in der klassischen Vernunft, die vor allem bei Platon und Aristoteles grundgelegt ist, einen nachhaltigen Maßstab. So liegen Übereinstimmungen mit den Ansätzen anderer Modernekritiker nahe, etwa mit demjenigen des Politikwissenschaftlers Eric Voegelin.

Gómez Dávila, der seine Heimatstadt Bogotá in den letzten Jahrzehnten seines Lebens nicht mehr verlassen hat, machte aus seiner Skepsis gegenüber Liberalismus und Moderne nie einen Hehl. Seine Kritik an den (pseudo-)theologischen Grundlagen der Demokratie und an deren Erscheinungsformen gehört bis heute zum Besten, was darüber je geschrieben wurde. Ein Teil seines Werkes ist längst vergessen, lediglich die Aphorismen, Glossen und Sentenzen bleiben bis heute hoch im Kurs und sind in mehrere Sprachen übersetzt, obwohl er selbst gegen die Bezeichnung „Aphoristiker“ Einspruch erhob.

Was macht die scharfsinnige Sezierung des Zeitgeschehens durch den genuinen Querkopf so faszinierend? Greifen wir einige der vielen zeitlosen pointiert formulierten Betrachtungen heraus: „Das Volk empört sich nie gegen den Despotismus, sondern gegen die schlechte Ernährung.“ Kaum eine Weisheit, wie sie in diesem Satz niedergeschrieben ist, erklärt so sehr die Hintergründe des breiten Widerstandes gegen die realsozialistische Bürokratie der siebziger und achtziger Jahre. Er richtete sich hauptsächlich gegen die Unfähigkeit der betreffenden Staaten, die Versorgungsengpässe in den Griff zu bekommen, die zu einer Zeit wieder auf der Tagesordnung standen, als sie schon überwunden geglaubt waren. Hingegen war der Kampf um Grundfreiheiten für die Masse der Bewohner eher sekundär.

Das Bonmot „Der Reaktionär ist der Anstifter dieser radikalen Auflehnung gegen die moderne Gesellschaft, die die Linke predigt, aber in ihren revolutionären Possen sorgsam meidet“ beschreibt wie kein zweites die Situation eines großen Teils der ehemals gesellschaftskritischen Linken. Sie ist heute – und das gilt nicht nur für das Zentralthema EU – ungeahnt strukturkonservativ. Somit verzichtet sie (Mainstream-Vertreter wie Jürgen Habermas und Daniel Cohn-Bendit eingeschlossen, Außenseiter wie Sahra Wagenknecht und Jürgen Elsässer ausgenommen) beispielsweise auf die nationalstaatliche Potenz, die als einzige in der Lage ist, dem Bankenkapital auf europäischer Ebene ernsthaft Paroli zu bieten.

Der Gedankensplitter „Ohne die nationalistische Virulenz würde über Europa und die Welt schon ein technisches, rationales, uniformes Imperium herrschen“ mutet so aktuell an, als wäre er gestern verfaßt und auf die real existierende EU gemünzt. Dieses Gebilde kann kaum anders denn als bürokratisch, technizistisch und in hohem Maße „exekutivistisch“ (Karl Albrecht Schachtschneider) ausgerichtet beschrieben werden. Insbesondere nach der Lektüre von Francis Fukuyamas „Ende der Geschichte“ leuchtet Dávilas Sentenz um so mehr ein, nichts indiziere so sehr den Sieg der Ideologie wie das Gerede vom „Ende der Ideologie“. Man ist überrascht, welcher eminente Wahrheitsgehalt den Texten Dávilas noch Jahrzehnte nach ihrer Abfassung zukommt.

Es besteht beim Studium der Schriften Dávilas kein Zweifel darüber, auf welchen Schultern von Riesen er steht. Die große Tradition der Moralistik, von den Franzosen Montaigne über Pascal und Rivarol bis zu den spanischen Repräsentanten, etwa Baltasar Gracián, liegt seinem Denken zugrunde. All jene Vorläufer teilen ihrem Publikum mit, daß Leben theoretisch im System nicht erfaßt werden könne. Zudem ist noch auf eine andere Verbindungslinie hinzuweisen: Wie Dávila stellten Julius Evola und Mircea Eliade die „Revolte gegen die moderne Welt“ in den Mittelpunkt ihres Schaffens. Anders als sie sieht er den katholischen Glauben und dessen dogmatische Form durchaus auch in der Gegenwart als angemessenes Mittel der Kritik der modernen Welt, jedenfalls bis zu den Reformen des letzten Konzils.

Was immer Verwunderung bei Dávila und seinen Anhängern hervorrief, war seine rege Rezeption ausgerechnet in Deutschland: in dem Land, das die großen Ideologien formte; im Ursprungsbereich der Reformation; hinzu kommen Belastungen durch das kurzzeitige Bündnis von 1933, das den Konservatismus so sehr diskreditiert wie nur möglich.

Der Meister hat selbst wohl die plausibelste Erklärung dafür gefunden: Der kränkeste Patient fühle stets am besten, was ihm helfe. Das Provokationspotential eines katholischen Traditionalisten ist unter den Nachkommen Luthers und eines gewachsenen liberalen Katholizismus, dem der antirömische Affekt von den Reformkatholiken an der Wende zum 20. Jahrhundert bis zu amtlichen Papstfeinden wie Hans Küng und Eugen Drewermann selbstverständlich ist, größer als in Ländern mit uneingeschränkt nachwirkenden kulturkatholischen Traditionen.

Immerhin nehmen sich so exzeptionelle Köpfe wie Martin Mosebach, Botho Strauß und Robert Spaemann seines Werkes an, früher auch Ernst Jünger und Erik von Kuehnelt-Leddihn. Die Verlage Karolinger und Matthes & Seitz haben sich besonders um Dávila verdient gemacht. Der Anglist Till Kinzel gilt als bester biobibliographischer Kenner hierzulande und hat eine lesenswerte Monographie vorgelegt.

So kann man fast zwei Jahrzehnte nach seinem Tod nur auf die bleibende Bedeutung des geistreichen Reaktionärs hinweisen. Die Selbstbeschreibung Nietzsches, er sei „Dynamit“, trifft auch auf seinen Bruder im Geiste aus dem fernen Südamerika zu. Nur ist es bei ihm weniger bekannt. Eine Änderung dieses Zustandes ist freilich nicht ausgeschlossen.

Till Kinzel: Nicolás Gómez Dávila. Parteigänger verlorener Sachen. Edition Antaios, Schnellroda, broschiert, 154 Seiten, nur noch anti- quarisch

Nicolás Gómez Dávila: Scholien – zu einem inbegriffenen Text. Karolinger, Wien, gebunden, 600 Seiten, 37,90 Euro

Nicolás Gómez Dávila: Notas. Unzeitgemäße Gedanken. Matthes & Seitz, Berlin, gebunden, 440 Seiten, 34,90 Euro

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