© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  23/13 / 31. Mai 2013

„Sie hat sich für mich eingesetzt“
Anna Seghers’ Romane im Zuchthaus gelesen
Jörg B. Bilke

Als ich am 4. Oktober 1965 Anna Seghers traf, die zu einer Lesung aus Ost-Berlin, wo sie lebte, in ihre Geburtsstadt Mainz gekommen war, wußte ich noch nicht, daß sie sich drei Jahre zuvor bei der DDR-Staatssicherheit für meine Freilassung aus dem Zuchthaus Waldheim eingesetzt hatte. Das erfuhr ich erst Jahrzehnte später, als sie längst gestorben (1. Juni 1983) und der Staat, für den sie gekämpft hatte, untergegangen war.

Ihren Namen freilich kannte ich aus Berlin, wo ich zum Sommersemester 1958 ein Studium der Literaturwissenschaft an der Freien Universität aufgenommen hatte. In Ost-Berlin, wohin ich jede Woche fuhr, konnte man ihre Bücher kaufen, darunter den Exilroman „Das siebte Kreuz“ von 1942. Gelesen aber hatte ich von ihr nichts, als ich im Herbst 1960 mein Studium an der Universität Mainz fortsetzte.

Die Werke von Anna Seghers wurden damals in den germanistischen Seminaren westdeutscher Universitäten nicht behandelt. Das sollte sich erst nach dem Bau der Mauer am 13. August 1961 in Berlin ändern, als der SED-Staat und seine Literatur stärker ins westdeutsche Blickfeld rückten. Ich aber las die Romane von Anna Seghers im Zuchthaus Waldheim, wo ich am 2. September 1962 eingeliefert worden war. Die dortige Zuchthausbibliothek war gut ausgestattet, nicht nur die deutschen Klassiker waren vertreten, auch Romane Heinrich und Thomas Manns konnte man ausleihen und, zur „Umerziehung“ der Häftlinge, reichlich DDR-Literatur.

Die Werke der „sozialistischen Klassiker“ Karl Marx und Friedrich Engels aus dem Ost-Berliner Dietz-Verlag dagegen unterlagen strengen Restriktionen. Dafür benötigte man eine Sondergenehmigung, weil vor allem dialektisch geschulte Gefangene diese Schriften „falsch“ interpretierten und mit den Klassenkampfthesen von Marx und Engels die Politik Walter Ulbrichts zu widerlegen suchten.

Bei Anna Seghers war das anders, ihre Romane zu lesen war erwünscht, weil sie „erzieherisch wertvoll“ seien, um den gestrauchelten „Staatsverbrecher“ auf den rechten Weg zurückzubringen. Für mich aber hatte die Fluchtgeschichte des Georg Heisler noch einen Nebenaspekt: Ich konnte gedanklich in die rheinhessische Landschaft zwischen Mainz und Worms zurückkehren.

Zehn Jahre später, im März 1973, als ich in Bloomington/Indiana lebte, flog ich für eine Woche nach Mexiko Stadt, wo noch nie ein DDR-Germanist gewesen war, um den Spuren von Anna Seghers im Exil nachzugehen. Später berichtete ich Anna Seghers von dieser Reise und schickte ihr ein Foto des Hauses in der Calle Industria, wo sie bis 1947 gewohnt hatte. Einige Jahre und viele Recherchen später verfaßte ich meine Dissertation über das Frühwerk von Anna Seghers (1977).

Aber erst zwei Jahrzehnte nach dem Mauerfall erfuhr ich, daß Anna Seghers auch um meine Freilassung bemüht war. Sie war von meinen Mainzer Freunden angesprochen worden und hatte daraufhin um ein Gespräch mit der Staatssicherheit gebeten. Am 3. Dezember 1962, als ich schon ein Vierteljahr in Waldheim war, erschienen drei MfS-Offiziere in ihrer Wohnung und diskutierten mehrere Stunden mit ihr. Genutzt hat es nichts, freigekauft gegen 40.000 D-Mark wurde ich erst am 25. August 1964.

 

Dr. Jörg Bernhard Bilke, Jahrgang 1937, wurde1961 bei einem Besuch der Leipziger Buchmesse wegen DDR-kritischer Artikel in einer westdeutschen Studentenzeitung verhaftet und zu dreieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt. Von 1983 bis 2000 war er Chefredakteur der „Kulturpolitischen Korrespondenz“ der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat in Bonn.

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