© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  23/13 / 31. Mai 2013

Haltungsnote
Sein, wo niemand war, tun, was noch keiner tat
Christian Rudolf

Ein daumendickes Polyesterband, gespannt zwischen zwei Hochhäusern, 30 Meter lang, darunter nichts als 185 Meter Luft: die höchste Slackline, die je an einem Gebäude befestigt wurde. Einer ist darüberbalanciert: Reinhard Kleindl. Die Arme in die Höhe gestreckt, mit dem Körper unablässig Gewicht ausgleichend, mit einer Wahnsinnskonzentration einen Fuß direkt vor den anderen setzend. Der Hochseilartist aus Graz hat beim Frankfurter Wolkenkratzer-Festival einen neuen Weltrekord aufgestellt.

Die Trendsportart ist die Leidenschaft des bärtigen Steiermärkers mit den dunklen Locken. Gewöhnlich führt er sein Können nur knapp über dem Boden auf. Dreißig Meter sind eigentlich keine Herausforderung, nachdem er schon einmal 200 Meter um sein Gleichgewicht gekämpft hat. Doch „beim Slacken ist man bis zum Schluß nicht sicher, denn von einer auf die andere Sekunde kann sich alles ändern“, beschreibt er den speziellen Kick. In der Höhe flutet ein Adrenalinschuß ohnegleichen die Adern. Wie in den Dolomiten. Ein Seil zwischen einsamen Felsen. 500 Meter tief über dem Abgrund. Dazu der Wind. Unmerklich gleitet das Sicherungsseil mit. „Eine Ausgesetztheit, wie ich sie vom Klettern her nicht kenne. Man möchte irgend etwas zum Festhalten! Das einzige, woran man sich hält, bewegt sich.“

Dabei war der 33 Jahre alte Extremsportler in der Jugend kein sportliches Talent. Nach dem Physikstudium brach er aus und begann mit dem Klettern. Ein Freund nahm ihn zum Slackline-Ausprobieren mit. Ein halbes Jahr kaum Fortschritte. Kleindl blieb hartnäckig. Heute kann er von seinem Können leben. Er war der erste, der die Mur in Graz auf einer zweieinhalb Zentimeter schmalen „Brücke“ überquerte. „Ich mag den Freiraum“, beschreibt er. „Dort zu sein, wo noch niemand war. Das zu tun, was noch niemand gemacht hat.“

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