© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/13 / 07. Juni 2013

Schrumpfrepublik Deutschland
Bevölkerung: Der Zensus 2011 des Statistischen Bundesamtes fördert überraschende Zahlen zutage
Lion Edler

Das waren noch ganz andere Zeiten für Statistiker, als 1987 in der Bundesrepublik gegen massiven Widerstand und gegen Boykott-aufrufe eine Volkszählung stattfand. „Zählt nicht uns – zählt eure Tage!“ oder „Nur Schafe lassen sich zählen“ lauteten in diesen erregten Zeiten die Parolen. Bei der jetzt in Berlin vorgestellten Zählung kam es dagegen zu „keinem nennenswerten Widerstand in der Bevölkerung“, sagte die Leiterin der Abteilung „Bevölkerung, Finanzen und Steuern“ des Statistischen Bundesamtes, Sabine Bechtold.

Wichtigstes Ergebnis der Untersuchung: Mit 80,2 Millionen Menschen lebten am 9. Mai 2011, dem Stichtag der Zählung, in Deutschland rund 1,5 Millionen Personen weniger, als von den Behörden angenommen. Die bisherigen Zahlen beruhten auf Schätzungen, die sich aus einer Bevölkerungsfortschreibung auf der Basis der Volkszählung von 1987 und den Daten des zentralen Einwohnermelderegisters der DDR aus dem Oktober 1990 ergeben hatten. Doch offenbar hatten sich im Laufe der Jahre angesichts der Wiedervereinigung sowie der Zu- und Abwanderung zahlreicher Menschen nach Deutschland Fehler in die Statistik eingeschlichen. Die Abweichung von rund 1,5 Millionen Einwohnern ergibt sich hauptsächlich aus der Zahl der Ausländer, die mit 6,2 Millionen um rund 1,1 Millionen geringer ist als vermutet. Insgesamt haben damit gut 15 Millionen Menschen (18,9 Prozent) einen „Migrationshintergrund“. Hierzu zählen alle Personen, die selbst, oder deren Eltern, nach 1955 auf das heutige deutsche Staatsgebiet zugewandert sind. Neben Ausländern zählen hierzu auch Spätaussiedler.

Besonders hoch ist dieser Anteil in Hamburg (27,5 Prozent), Baden-Württemberg (25,2 Prozent) und Bremen (25,1 Prozent). In sämtlichen fünf östlichen Bundesländern liegt der Anteil jeweils unter fünf Prozent, am geringsten in Thüringen mit 3,3 Prozent.

Die größte Herkunftsgruppe der Bevölkerung mit Migrationshintergrund stammt nach der Untersuchung aus der Türkei (17,9 Prozent), gefolgt von Polen (13,1 Prozent), der Russischen Föderation (8,7 Prozent), Kasachstan (8,2 Prozent) und Italien (5,3 Prozent). Die restlichen 46,9 Prozent teilen sich auf eine Vielzahl kleinerer Herkunftsgruppen auf.

Nur sehr ungenaue Angaben kann das Statistische Bundesamt zur Verteilung der Religionszugehörigkeiten machen. Zwar bekannten sich 66,8 Prozent als christlich, 10,5 Prozent als religionslos und 5,3 Prozent ordneten sich weiteren Glaubensrichtungen zu. Doch ein sehr hoher Anteil von 17,4 Prozent an Befragten, die keine Angaben zur Religion machen wollten, gibt Rätsel auf.

Nach den Zahlen des Zensus 2011 hat Deutschland weiterhin vier Millionenstädte: Berlin, Hamburg, München und Köln. 76 Städte hatten mehr als 100.000 Einwohner, wobei im Vergleich zur bisherigen Bevölkerungsfortschreibung vier Städte diesen Status verloren (Siegen, Hildesheim, Salzgitter und Cottbus).

Bemerkenswert erscheint vor dem Hintergrund politischer Diskussionen um die „Homo-Ehe“ die geringe Zahl von 34.000 eingetragenen, das heißt homosexuellen Lebenspartnerschaften, wovon rund 60 Prozent auf das Konto von Männern gehen. Im Vergleich zu den rund 18,2 Millionen Ehen am Zensusstichtag ergibt sich somit ein Anteil von 0,19 Prozent eingetragenen Lebenspartnerschaften, was einem Verhältnis von 535 zu 1 für die Ehe entspricht.

Nachdem das Bundesverfassungsgericht 1983 in seinem Volkszählungsurteil dazu aufforderte, die Methoden zur Gewinnung statistischer Daten weiterzuentwickelt, um die Bevölkerung zu entlasten, sollte der Zensus 2011 möglichst belastungsarm und kosteneffizient über die Bühme gehen. Es handelte sich daher strenggenommen auch nicht um eine Volkszählung, sondern vor allem um die Auswertung bereits vorhandener Daten aus der öffentlichen Verwaltung, den Einwohnermelderegistern oder den Personenregistern der Bundesagentur für Arbeit. Ergänzend dazu wurden zum Zensusstichtag rund zehn Prozent der Bevölkerung durch Interviewer befragt und alle Eigentümer von Wohnraum um schriftliche Auskunft zu Wohnungen und Gebäuden gebeten. Zu dem Zensus 2011 hatte die Europäische Union alle Mitgliedsstaaten verpflichtet. Künftig wird die Untersuchung alle zehn Jahre wiederholt.

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