© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/13 / 07. Juni 2013

„Wir kommen hier nicht raus“
Jahrhundertflut: In vielen Regionen Deutschlands herrscht Ausnahmezustand, besonders in Passau ist die Situation dramatisch
Lukas Noll

Nur noch sein Schriftzug schaut aus dem Wasser, statt Musik nur noch Sirenen: Das Passauer Lokal „Bayrisch Venedig“ hat in diesen Tagen einen eigenwilligen Charme, der über die idyllische Donaupromenadenlage im wahrsten Sinne des Wortes hinausgeht. Die Gaststätte steht sinnbildlich für die sintflutartige Katastrophe, der die niederbayerische Dreiflüssestadt in diesen Tagen ausgesetzt sieht. Gondeln wie im „richtigen“ Venedig würden hier aber nichts mehr bewirken: Wo die Restaurantbesucher für gewöhnlich auf der Terrasse sitzen, ist nun nur noch Wasser. Das gesamte Erdgeschoß sowie die dahinter gelegene Parallelstraße sind geflutet.

Was für die Passauer etwas alljährliches ist, hat in diesem Jahr Ausmaße erreicht, die Einwohner nicht mehr von einem Jahrhundert-, sondern einem „Jahrtausendhochwasser“ sprechen lassen. „Normal ist halt mal die Innpromenade weg. Oder die Ortsspitze“, sagt ein junger Mann, der das Treiben entgeistert von einer Anhöhe aus beobachtet. Am Montag aber trafen sich Inn und Donau in der deutlich erhöht liegenden Fußgängerzone – eine Szene, wie sie nur ältere Passauer noch von der Jahrhundertkatastrophe von 1954 vor Augen haben. „Damals waren es zwölf Meter zwanzig – beim Hochwasser von 2002 sogar nur 10,81“, sagt ein alteingesessener Passauer. „Am Montag wurden hier 12,85 Meter gemessen.“

Weiter vorne, Richtung Ortsspitze, wo die Flüsse normalerweise erst aufeinandertreffen, steht der Student Johannes W. fassungslos vor den schier unaufhaltsamen Wassermassen. „Das Passauer Hochwasser kannte ich bis dato nur aus dem Fernsehen, jetzt steht es wahrscheinlich schon bei mir im Zimmer!“ Doch wie es um seine Wohnung bestellt ist, kann er bestenfalls erraten. Inn und Donau haben das gesamte Viertel für sich eingenommen. Die traurige Gewißheit kommt für den 21jährigen erst per Boot. Als ihn die Feuerwehr für wenige Minuten in seine Räumlichkeiten bringt, kommt ihm im kniehohen Wasser direkt sein Sofa entgegengeschwommen. „Es stinkt wie die Pest, nach Öl und nach Kloake.“

Ob die Versicherung den massiven Schaden übernimmt, weiß Johannes noch nicht. Ihn kümmern vor allem pragmatische Fragen: „Wo soll ich jetzt schlafen in den nächsten Wochen?“ Diese Frage betrifft in Passau auch immer mehr Menschen, deren Wohnung selbst nicht verwüstet ist: „Ich wohne zwar im zweiten Stock, aber kann höchstens noch in meine Wohnung schwimmen“, erzählt ein Betroffener in der ebenfalls überschwemmten Fußgängerzone. Doch auch wer in seine Wohnung kommt, steht vor Problemen: Bereits seit Sonntag abend werden Warnungen vor verschmutztem Leitungswasser ausgegeben, weil die Stadtwerke die Funktionstüchtigkeit ihrer Kläranlagen nicht mehr gewährleisten können. Ab Montag fällt das Trinkwasser dann systematisch aus, ebenso Strom und Handynetze in Teilen der Stadt.

Während sich die Studenten, die mehr als ein Fünftel der Passauer Einwohner stellen, untereinander über Facebook Übernachtungsmöglichkeiten verschaffen, stehen besonders ältere Menschen und Familien vor ernsthaften Problemen. Sie müssen sich in die Auffanglager der Stadt begeben. Ohnehin scheint sich ganz Passau auf den Beinen zu befinden.

Trotz des Regens, der bis in die Morgenstunden am Dienstag nicht aufhört, ist die Stadt voller Menschen, die sich den zahlreichen Hilfskräften anschließen wollen. „Die Leute fühlen sich hilflos, auch weil sie nicht wirklich anpacken können“, sagt ein Feuerwehrmann, der aus Thyrnau im Bayrischen Wald abgezogen worden ist. Vor allem junge Leute sind hingerissen zwischen Faszination und Schrecken. „Wassertouristen, geht nach Hause“, steht im Fenster eines überfluteten Hauses geschrieben. Wütend wird ein junger Mann davon abgehalten, sich seinen Weg durch Passaus enge Gassen zu bahnen, ohne auch dort zu wohnen. Auch die Studentenverbindung Oeno-Danubia kämpft gegen das Wasser an. „Heute vormittag stand der Inn noch deutlich unter der Mauer des Kindergartens dort drüben“, berichtet einer der Aktiven.

Zu diesem Zeitpunkt hat die Flut den Kindergarten bereits bis zum Dach verschluckt. „Man kann dem Wasseranstieg fast minütlich zusehen“, ruft er seinen Bundesbrüdern zu, die gerade eine Kette bilden und das wichtigste Hab und Gut der Verbindung ins Turmzimmer bringen. Der Saal steht voll – auch weil sich der Kindergarten bereits am Sonntag mit seinen Möbeln hierhin rettete. Ein paar Meter weiter sieht es für die Burschenschaft Hanseatia düster aus: Seit Montag nachmittag gleicht das Verbindungshaus einem Aquarium. Wie in diesem Jahr so oft trifft es auch hier einen Stadtteil, der von den Pegelständen vergangener Hochwasserkatastrophen verschont geblieben war. In Ilz- und Innstadt ist man zwar so gut wie immer betroffen, wenn die drei Flüsse ansteigen, erlebt in diesem Jahr aber eine nie gesehene Eskalationsstufe. „Hier in der Ilzstadt riecht die ganze Luft nach Öl und man sieht alle zwei Minuten einen Militärhubschrauber“, schreibt ein Anwohner auf Facebook. Kurz darauf fallen auch Telefon und Internet aus.

Der Verkehr ist zu diesem Zeitpunkt längst zusammengebrochen. „Kommen hier nicht raus“, posten zwei Mädchen unter einem Foto aus ihrer Wohngemeinschaft in der Innstadt. Sowohl die Autobrücke als auch der Steg in die Altstadt sind nicht mehr zu erreichen. „Mein Papa konnte mich nur noch über Österreich abholen“, schreibt die 20 Jahre alte Melanie: „Sonst wäre ich auch in die Notunterkunft evakuiert worden.“

 

Fluthilfe I: Am Internet kommt heutzutage niemand mehr vorbei

Beim Hochwasser 2002 waren sich viele Hilfskräfte einig: Ohne Mobilfunk hätten wir das nicht gepackt. Ein Feuerwehrmann damals im Fernsehinterview: „Ich weiß nicht, wie die Menschen solche Herausforderungen früher ohne Handy gemeistert haben.“ Inzwischen hat das mobile Internet die Möglichkeiten noch einmal verbessert: Über normale Netzseiten wie leipzig.de werden Deichbauarbeiten koordiniert. Und dank Facebookseiten wie „Fluthilfe Dresden“ sprechen sich die Helfer aus Sachsen ab, die früher nie voneinander erfahren hätten. Dirk Grünig etwa bietet an, mit seinem Lkw nach Dresden zu kommen, um irgend etwas zu transportieren. Anja Ulbricht fragt, wer in einer Grundschule Sandsäcke stapeln kann. Und Constanze Fischer hat 100 Brötchen geschmiert: „Wer will sie haben?“ (rg)

 

Fluthilfe II: Leser helfen Lesern

Die JUNGE FREIHEIT möchte wie schon bei der Flut 2002 betroffenen Lesern helfen. Vor elf Jahren gelang es uns, über 20.000 Euro Spendengelder zu sammeln. Betroffene können sich direkt unter Fluthilfe@jungefreiheit.de an den Verlag wenden. Spenden sammeln wir unter dem Stichwort „JF-Sonderfonds Fluthilfe 2013“, Kto. 5459689011, BLZ 100 900 00, Berliner Volksbank.

Foto: Passaus Überflutete Innenstadt: Viele Sitzen in ihren Wohnungen fest

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