© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/13 / 07. Juni 2013

Pankraz,
der Wahlkampf und das geordnete Chaos

Je näher der Termin für die Bundestagswahl heranrückt, um so größer wird bei den politischen Parteien die Angst vor dem Chaos. Man will unbedingt „innerparteiliche Geschlossenheit“ demonstrieren, weil sich sonst die Chancen, gewählt zu werden, angeblich drastisch verschlechtern. Die Jagd auf Abweichler hat in allen Quartieren fast schon altkommunistisches Format angenommen. Abweichler, heißt es übereinstimmend, richteten doch nur Chaos an. Weg mit ihnen!

Wieder einmal zeigt sich die tiefe Kluft, die sich zwischen Politik und realem Leben aufgetan hat. Denn in der Wissenschaft weiß man spätestens seit der Entwicklung der sogenannten Chaosforschung, daß angestrengte Harmonie und bewußt organisierte Gleichförmigkeit allen lebendigen Systemen schaden, daß sie ungesund sind, für den Stoffwechsel, für die Herztätigkeit, für die Gehirnströme, für beinahe alles.

Ideal für die Gesundheit ist hingegen ein „gemäßigtes Chaos“ im Kontext gewisser großzügiger Rahmenbedingungen. Wenn Soldaten im Gleichschritt über eine Brücke marschieren, bricht sie zusammen. Wenn eine lässige, bunte Menge darüber hinweg flaniert, passiert nichts. Die Brücke bleibt „gesund“. Und genau so verhält es sich mit dem menschlichen Organismus. Die Herzschlag-Kurve eines Gesunden im EKG variiert unendlich von Sekunde zu Sekunde. Bei einem Herzkranken wird sie sichtbar einheitlicher, gleichsam marschmäßiger. Es ist, als ob ein heimlicher Dämon das Herz zum Gleichschritt zwingt, damit die Brücke des Gesamtorganismus einstürze.

Ganz ähnlich verhält es sich mit Gehirnstromkurven, die man im EEG mißt. Beim Gesunden weisen sie eine Fülle von nicht vorhersehbaren Unregelmäßigkeiten auf, beim Epileptiker vermindert sich die Anzahl der Unregelmäßigkeiten rapide, und auf dem Höhepunkt des epileptischen Anfalls bleiben nur einige wenige starre Perioden übrig. Wieder hat man den Eindruck, als sei ein gleichmacherischer Dämon am Werk.

Sollte nicht auch die „moderne, demokratische“ Politik ein lebendig pulsierendes System sein? Schließlich gibt es auch im Gesellschaftlich-Politischen einen Begriff von Gesundheit, der dem der Biologie sogar recht ähnlich ist. Optimales Funktionieren des Gesamtsystems bei optimaler Zufriedenheit des einzelnen Teilnehmers – so etwa könnte man ihn definieren.

Wie nun also, wenn auch im Gesellschaftlichen und Politischen die Gesundheit primär vom Chaos garantiert wird statt von der Harmonie, wenn auch hier ein allzu strammes Marschieren und Sich-einig-Sein zum Einsturz der Brücke führt?

Staatslenker, Parteivorsitzende und Verbandspräsidenten müßten demnach penibel darauf achten, daß in den von ihnen geleiteten Körperschaften ständig ein Maximum an Vielfalt und Divergenz waltet, ein „gemäßigtes Chaos“ eben, dessen Herstellung großes Fingerspitzengefühl und ingeniöse Führungsfähigkeiten erfordert. Leider gibt es für soziale Verbände weder EKG noch EEG, allenfalls mathematische Näherungsformeln und Computersimulationen, die aber bei der Ortung von Krankheitsherden oder bei der Berechnung optimaler Chaos-Grade wohl kaum Hilfestellung leisten können.

Es geht ja nicht darum, einem fröhlichen Anarchismus zu frönen und dem Chaos freien Lauf zu lassen, vielmehr gilt es, erstens möglichst effiziente Rahmenbedingungen zu schaffen, zweitens zu verhindern, daß irgendwo kontraproduktive Gleichrichtermagneten entstehen, die die Eisenfeilspäne in eine einzige Richtung ziehen, Katalysatoren, die mit überflüssigen Harmonisierungsformeln geimpft sind. „Aktive Desynchronisation“ nannte das einst der Chaosforscher Alan Garfinkel von der kalifornischen Staatsuniversität Los Angeles. Ohne „aktive De-synchronisation“, postulierte er, sei jede Politik zum Scheitern verurteilt.

Daß ideologisch geprägte Diktaturen die geborenen Feinde der aktiven Desynchronisation sind, versteht sich fast von selbst, ist ihnen doch die Erzeugung und permanente Verstärkung von Kollektivschwingungen in die Wiege gelegt. Aber auch Demokratien sind nicht gefeit vor solchen Schwingungen, wie wir immer öfter erfahren. Geplante Medienkampagnen oder aus der Tiefe der Kollektivseele hervorbrechende Massenhysterien erzeugen nur allzuoft ein Meinungsklima (besser: Stimmungsklima), in dem der einzelne gar nicht mehr anders kann, als sich anzupassen oder zu verstummen.

Dabei fällt es in der Regel wahrhaftig nicht schwer, das Krankhafte, Zerstörerische solcher Stimmungen zu durchschauen. Dennoch denkt kein einziger unserer zur Zeit wahlkämpfenden Politiker auch nur im entferntesten daran, aktive Desynchronisation zu üben, im Gegenteil, er versucht sofort, auf die jeweilige Welle aufzuspringen und die Schwingungen noch zu verstärken.

Wüste Stimmungswellen reiten und trotzdem im Vergleich zum Konkurrenten als großer Harmoniestifter und Chaosverhinderer dastehen – das ist das „Erfolgsrezept,“, das hiesige Politiker heute anwenden, um ihre Wahlen zu gewinnen. Der zugehörige Katzenjammer stellt sich regelmäßig direkt nach der Wahl ein, wenn man das Parolen- und Phrasengerümpel möglichst unauffällig wegräumen muß, damit die Leute (und vor allem die eigenen dissidenten Parteifreunde) wenigstes wieder etwas Luft schnappen können.

Wenn die Dinge sich nun verschlechtern, will es selbstverständlich niemand gewesen sein, Sie alle wollten doch nur Harmonie stiften, und Harmonie sei ein hoher, wohl der höchste Wert; siehe die wunderbaren Harmonien in der Musik und in der großen Kunst überhaupt! Aber vielleicht wäre hier wieder einmal ein Blick auf die klassische Überlieferung hilfreich.

Bei den alten Griechen war Eros, der Gott der Liebe und der Harmonie, ein Sohn des Chaos. Welcher bei den olympischen Wettbeweben den sturen Geradeausläufern gern ein Bein stellte. Erst spät wurde er von den übrigen Göttern akzeptiert. Sein chaotisches Wesen erwies sich als mächtigstes Organ jeglicher wahren Ordnung.

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