© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/13 / 14. Juni 2013

„Wunsch nach Freiheit“
Vor sechzig Jahren erhoben sich die Deutschen erstmals gegen die SED-Herrschaft. Walter Schöbe erlebte den Aufstand in Leipzig.
Moritz Schwarz

Herr Schöbe, warum brach am 17. Juni 1953 ein Aufstand gegen den Kommunismus aus?

Schöbe: Warum? Weil sich die Menschen, die Bürger, den Terror nicht mehr gefallen lassen wollten! Das war wie jüngst in Ägypten, in Libyen, Syrien. Oder wie in der Türkei, wo sich nun am Streit um einen Stadtpark ein Aufstand gegen die Regierung entzündet hat. Am 16. Juni 1953 waren Bauarbeiter aus Protest gegen eine Normerhöhung in Streik getreten. Ihr Demonstrationszug quer durch das Berliner Zentrum schlug den Funken: Tags darauf loderte der Volksaufstand vom 17. Juni – in der ganzen Ostzone gingen die Menschen auf die Straße. Wie Sie auf den Fotos sehen, waren mindestens 100.000 Bürger und Bürgerinnen in den Städten im Aufstand für Freiheit und Einheit.

Historiker gehen von 500.000 bis 1,5 Millionen aus. Einer davon waren Sie.

Schöbe: Ich hörte von den Ereignissen im Rundfunk und eilte sofort von meiner Wohnung in Leipzig, wo ich studierte, in die Innenstadt. Ich war begeistert! Endlich sollte wahr werden, wofür wir so lange gekämpft hatten.

Sie gehörten bereits zur geheimen Opposition in der DDR.

Schöbe: Ostzone! Ich sage bis heute, es gab keinen legitimen Staat „DDR“. Wir nannten es damals: „Undeutsche, undemokratische Diktatur“. Dies stand auch auf Briefmarken, welche wir aus West-Berlin holten und mit falschen Absendern verschickten.

DDR in Gänsefüßchen, das klingt für viele heute nach Kaltem Krieg.

Schöbe: Finden Sie? Dieser Begriff diente den Kommunisten stets als Vorwand für den Kalten Krieg, den ja die SED führte und die ihren Terror damit begründete. Diese Regierung war nie vom Volk gewählt worden. Das war für mich keine „Regierung“, sondern eine rechtswidrige Diktatur. Da also die Ostberliner Machthaber von ihrem Volk nicht gewählt worden waren, war ihr Staat folglich weder deutsch noch demokratisch, noch eine Republik, sondern eine russische Besatzungszone. Hitler, von dem ich weiß Gott kein Freund war und bin, hatte wenigstens eine Wahl gewonnen. Doch diese Leute, die beanspruchten, so viel besser als Hitler zu sein, waren nach unserem Empfinden nicht anders. Ich habe ihren Machtanspruch immer als „Machtergreifung“ empfunden, was sich ein mündiger und aufgeklärter Bürger schon aus Prinzip nicht gefallen lassen kann. Nicht in unserer modernen Zeit.Nicht Mitte des 20. Jahrhunderts. Und nicht nach der Erfahrung mit dem sogenannten Dritten Reich.

Für Sie war der Widerstand gegen die SED die logische Folge aus der Diktatur des Nationalsozialismus?

Schöbe: Natürlich, ich war Ende des Krieges – Februar 1945, noch keine 16 – zum Flakeinsatz in Berlin eingesetzt und mußte von dort ein Aktenpaket nach Leipzig bringen. Ich sollte nach Ausführung des Auftrages zum Einsatz wieder nach Berlin zurückkommen. Das tat ich nicht, ich versteckte mich in eimem Dorf auf einem Bauernhof, weil die Rote Armee auf Berlin zu rückte. Dann marschierten die Amerikaner in Halle und Leipzig und auch in das Dorf ein. Ich kann Ihnen sagen: Das war eine Befreiung! Ganz anders dagegen ein paar Kilometer weiter über die Mulde, wo die Sowjetsoldaten raubten, verschleppten, vergewaltigten und mordeten. Als die „Befreier“ nahmen sie sich das Recht dazu heraus. Ein Onkel von mir wurde erschossen, weil er seine Tochter versteckt hatte, die dann vielfach gequält und vergewaltigt wurde. Nachts flüchtete sie schwimmend durch die Mulde zu den Amis. Dadurch habe ich noch deutlicher erfahren, was Recht und Freiheit bedeuten. Nach dieser „Befreiung“ ging die Bolschewisierung los, die Diktatur der Nazis wurde durch eine neue Diktatur abgelöst und wieder wurden Menschen verschleppt und ermordet.

Die SED reklamierte, in den Lagern der Kommunisten säßen die ehemaligen Nazis.

Schöbe: Unsinn, es gab genug Fälle, in denen ehemalige Naziführer nun bei der SED mitmachten und zu Amt und Würden kamen, während unschuldige Leute in den Lagern landeten, weil sie von örtlichen SED-Funktionären aus persönlichen Gründen beim Russen angezeigt worden waren. Nach der Wende 1989 wurden etwa 85 Prozent der vormaligen angeblichen NS-Insassen der sowjetischen Speziallager – welche diese zum Teil nicht überlebten – von Moskauer staatlichen Behörden entlastet. In meinem Heimatort wurden zwölf unschuldige Bauern und Arbeiter in solche Lager verschleppt. Nur zwei davon sind wiedergekommen. Damals wurde uns Deutschen mit Blick aufs „Dritte Reich“ vorgeworfen: „Warum habt ihr das zugelassen? Warum nichts unternommen?“ Solche Vorwürfe wollten wir uns im Hinblick auf diese zweite Diktatur nicht machen lassen. So haben wir beschlossen, dagegen so aktiv wie möglich Widerstand zu leisten. Genau wie die Geschwister Scholl, Graf von Stauffenberg und viele Nichtgenannte. Sie waren unsere Vorbilder.

Wer war „uns“?

Schöbe: Freunde, Schulkameraden, Kommilitonen – da fanden sich sehr schnell Gruppen zusammen.

Hieß Widerstand nicht „Sibirien“?

Schöbe: Tod, Sibirien oder Zuchthaus. Aber das schob man weg.

Etliche Köpfe der Widerstandsbewegung „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“ (KgU), der Sie sich anschlossen, wurden hingerichtet.

Schöbe: Das stimmt. Dabei waren sie normale Bürger, aufrechte Menschen, die Konsequenzen gezogen hatten aus der Vergangenheit, die Mut und Zivilcourage gezeigt hatten. Sie wurden natürlich von der SED als Terroristen bezeichnet. Waren denn dann die Widerstandskämpfer gegen die Nazidiktatur auch Terroristen? Heute erinnert sich in Deutschland kaum noch einer an die toten Widerstandskämpfer gegen die SED-Diktatur. Dabei waren sie die ersten Bürgerrechtler. Flugblätter und zum Beispiel die Zeitschrift Tarantel wurden aus dem Westen geschmuggelt und überall in Leipzig, etwa an der Universität, nachts verteilt.

Also Material, welches Sie von westlichen Organisationen bekommen hatten?

Schöbe: Genau, denn es gab ja weder Papier noch Kopierer oder Drucker. Wir hatten prima Verbindungen zu den Amerikanern und zum Ostbüro der SPD. Kurt Schumacher, damals Vorsitzender der SPD, bezeichnete die SED als „rotlackierte Faschisten“. Das gab uns noch mehr moralische Unterstützung, gegen diese neue Diktatur Widerstand zu leisten. Die von den USA unterstützten Gruppen, die KgU und der „Untersuchungsausschuß freiheitlicher Juristen“, waren auf diese Hilfe angewiesen.

Was glaubten Sie, bewirken zu können?

Schöbe: Wir hofften, schon damals das erreichen zu können, was dann ja 1989 geschehen ist. Unser Freiheitswille und -glaube wurde leider erst nach so vielen Jahren von der Öffentlichkeit bestätigt und anerkannt. Solche diktatorischen Zustände mitten in Europa waren nicht mehr zu dulden, so daß den Verantwortlichen und Mittätern nichts anderes übrigblieb, als 1989 in die freiheitliche, demokratische Staatsordnung einzutauchen, um wieder mitzuregieren. Von einer Bestrafung dieser Täter und sogar Mörder wurde leider abgesehen. Unsere Enttäuschung darüber, und die aller Opfer, ist groß. 1953 aber hatten wir uns eingebildet, daß die Westmächte schon auf die Russen einwirken würden. Damals hatte Moskau noch keine Atombombe. Heute weiß ich: Wir lagen falsch. Tatsächlich hatten die Westmächte kein Interesse an einer Eskalation, obwohl sie die Nazis besiegt hatten, um ganz Europa Demokratie, Freiheit und Recht zu bringen.

Als dann 1953 der Aufstand begann, glaubten Sie, die Stunde sei gekommen.

Schöbe: Ja, obwohl auch ich von den Ereignissen vollkommen überrascht war. Später haben Ost-Berlin und Moskau versucht, den 17. Juni als von uns Widerständlern angezettelt darzustellen. Dabei gab es keine Anstifter. Aber sie suchten Schuldige. Erst nach physischer und psychischer Folter im Vernehmungskeller des russischen KGB habe ich unterschrieben, daß wir die Urheber des 17. Juni gewesen seien. Damit waren die sowjetischen KGB-Vernehmer zufrieden. Denn dadurch konnten sie dem Vorwurf ihrer Moskauer Zentrale, sie hätten den Aufstand nicht verhindert, begegnen und ihn „westlichen Agenten“ in die Schuhe schieben, obwohl der 17. Juni über Nacht aus dem Volk kam.

Warum?

Schöbe: Bestimmt nicht nur aus Wut über die Mißstände – Normerhöhung, Preise etc. – wie anfangs, am 16. Juni, bei den Ostberliner Bauarbeitern, sondern aus Protest gegen die nichtgewählte SED-Diktatur. Diese herrschte durch Terror, willkürliche Verhaftungen, Verschleppungen und Morde, zusammen mit der sowjetischen Besatzungsmacht. Die Bevölkerung verlangte die deutsche Einheit, persönliche Freiheit, Menschenrechte, freie Wahlen – also Demokratie.

Was haben Sie genau gesehen?

Schöbe: Als ich am Vormittag des 17. Juni zum ehemaligen Leipziger Königsplatz Richtung Peterssteinweg rannte, kamen mir die Menschenmassen schon entgegen. Die Demonstranten trugen Schilder und Transparente und skandierten und sangen auch die dort genannten Forderungen. Der renommierte Historiker Hubertus Knabe schildert das Ganze hervorragend in seinem Werk „17. Juni 1953. Ein deutscher Aufstand“, in welchem sich auch von mir gemachte Fotos finden.

Die Herkunft der Bilder ist unklar.

Schöbe: Ich weiß, daß ich einige dieser Bilder, die den 17. Juni in Leipzig zeigen, aufgenommen habe. So den brennenden SED-Propaganda-Pavillon vor dem alten Rathaus oder den von der Polizei erschossenen Aufständischen aus dem Justizgebäude, der von den Demonstranten weggetragen wird. Der Film wurde aber bei meiner Verhaftung beschlagnahmt.

Straßenschlachten wie in Ost-Berlin gab es in Leipzig nicht. Warum?

Schöbe: Berlin stand unter der Vier-Mächte-Verwaltung, Berlin stand im Fokus der Weltöffentlichkeit. Deshalb konnten die Demonstranten dort viel mehr wagen als bei uns. Die Welt bekam gar nicht mit, was in den Städten und Dörfern in der Provinz passierte. Siehe etwa Halle, Jena, Dresden, Bitterfeld, Erfurt, Görlitz, Cottbus, Magdeburg etc. sowie in vielen Dörfern. Das war eben vor der Zeit des Fernsehens, Mobiltelefons und der freien Presse. Radiosender wurden zum Teil gestört.

Dennoch bekam die SED die Lage auch in der Provinz nicht unter Kontrolle.

Schöbe: Das stimmt, denn ein Teil der Volkspolizei lief zu uns Demonstranten über. Wie in Berlin waren es die Russen, welche die SED retteten. Erst als die Rote Armee in Leipzig einrückte, wurden die Menschen unter Androhung von Erschießung verjagt und zerstreut. Der russische Kommandanten verhängte den Ausnahmezustand. Damit war der geforderte Generalstreik verhindert.

Man gab einfach auf?

Schöbe: Die Menschen wußten, daß sie gegen die Rote Armee machtlos waren und mit Erschießungen rechnen mußten. Genau das geschah ja dann auch 1956 in Ungarn und 1968 in der ČSSR. Keineswegs gingen wir aber davon aus, daß der Aufstand ohne Folgen geblieben war, denn im Bewußtsein der unterdrückten Menschen in der Ostzone lebte der Wunsch nach Erringung der Freiheit, um eines Tages erfüllt zu werden – siehe 1989!

 

Walter Schöbe, Geboren 1929 als Landwirtssohn bei Halle, studierte Walter Schöbe zunächst Tiermedizin in Leipzig, später Humanmedizin in Tübingen. Er unterstützte ab Anfang der fünfziger Jahre die 1948 in West-Berlin gegründete antikommunistische Widerstandsbewegung „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“ (KgU). Nach dem 17. Juni 1953 wurde er verhaftet und zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt, von denen er sieben Jahre absitzen mußte. Walter Schöbe bat auf den Abdruck eines aktuellen Fotos von ihm zu verzichten. Er stellte lediglich eine Jugendfotografie zur Verfügung, die ihn im Jahr der Ereignisse des Volksaufstands vom 17. Juni 1953 zeigt.

Foto: Der 17. Juni 1953 in Leipzig: Auf dem Marktplatz brennt ein SED-Propaganda-Pavillon (oben). Später besetzen Panzer den Platz (ganz oben). Aufständische vor dem Justizgebäude (unten), der Uniformierte vorn hat die Waffe gezogen. Laut Walter Schöbe wird hier später ein Demonstrant erschossen.

 

weitere Interview-Partner der JF

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen