© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/13 / 14. Juni 2013

Pankraz,
N. Ferguson und das gekillte Abendland

Falls die Diagnose nicht stimmt, nützen die schönsten Therapien nichts. Das muß zur Zeit auch der nicht unoriginelle, ziemlich einfallsreiche schottische Globalsoziologe und „Imperialismusforscher“ Niall Ferguson (49) erfahren, den die Sorge um den „Niedergang des Westens“ umtreibt und der intensiv auf Abhilfe sinnt. Er weiß natürlich, daß er ein großes Vorbild hat, Oswald Spengler mit seinem Weltbestseller „Der Untergang des Abendlandes“. Aber genau mit Spengler will Ferguson nichts zu tun haben. Er ist ihm zu „organisch“ in seinem Denken.

Der eigentliche (drohende) Untergang des Abendlands, sagt Ferguson, ist keine Frage des natürlichen Alterns oder der Geographie oder der Religion, sondern einzig eine der sozialen Instutionen. Institutionen seien vom organischen Leben völlig unabhängige, prinzipiell jederzeit zur Verfügung stehende Sozialtaktiken: Es komme nur darauf an, sie auch wirklich einzusetzen. „Unsere Schwierigkeiten haben wir uns selber eingebrockt. Sie stecken nicht in unserer DNA, sondern sie sind institutioneller Art. Deshalb können wir sie beheben.“

Ferguson hat auch eine Liste der angeblich entscheidenden Institutionen zusammengestellt, die „dem Westen“ vor etwa 500 Jahren zur imperialen Vorherrschaft in der Welt verhalfen und die heute von ihm leider nicht mehr hinreichend genutzt würden; er nennt sie sinnigerweise „Killerapplikationen“, abgekürzt „Killer-Apps“. Sechs Killer-Apps zählt er auf; erstens den Fakror Wettbewerb, zweitens den Faktor Wissenschaft, drittens den Faktor Rechtsstaatlichkeit, viertens den Faktor Medizin, fünftens den Faktor Konsum und sechstens den Faktor Arbeitsmoral.

Woher der Drang zu den Killer-Apps kommt, das verrät er nicht. Es sei mit den Institutionen, erklärt er seinen Hörern, wie heute mit den Smartphones. „Wenn Sie Ihr Smartphone betrachten, sehen Sie dort Symbole, die einfach und einleuchtend sind. Sie tippen auf eines dieser Symbole, und es passiert etwas. Den komplizierten Computercode, der hinter dem Symbol steckt, kennen Sie nicht. Sie wissen nur, daß die Sache funktioniert (…) Aber man muß verstehen, daß sich hinter diesen Begriffen eine Vielzahl komplizierter institutioneller und intellektueller Codes verbirgt.“

Über Struktur und Herkunft der Codes erfahren wir nichts bei Ferguson. Aber immerhin läßt er einiges verlauten über den Grund, weshalb wir im Westen so schlapp geworden sind bei der Anwendung der Killer-Apps. „Wir löschen sie mit dem Wohlfahrtsstaat“, lehrt er, „unsere Konsumgesellschaft löschen wir mit Schulden; unseren Vorteil auf dem Gebiet der Medizin löschen wir mit Junkfood; unseren wissenschaftlichen Vorteil löschen wir mit Junkbildung; unseren Rechtsstaat löschen wir mit unsinnigen Vorschriften; und unseren Wettbewerbsgeist löschen wir mit zentralisierter Regulierung“.

Gar nicht schlecht gebrüllt, Löwe! Was nützt aber alles therapeutische Gebrüll, wenn vorher die Diagnose so jämmerlich ausgefallen, ja im Grunde gar nicht geleistet worden ist? Zu behaupten, Institutionen seien zu jeder Zeit da wie die Sonne am Himmel, man müsse sie einfach nur einführen, kommt dem wissenschaftlichen Offenbarungseid gleich. Schließlich gibt es eine klassische Institutionenlehre, an der man sich orientieren könnte. Ihre Schöpfer, Maurice Hauriou und Arnold Gehlen, werden sich bei Fergusons Worten im Grabe umdrehen.

Sowohl Hauriou wie vor allem Gehlen definierten die Institution als einen natürlichen Bestandteil des „Mängelwesens“ Mensch. Im Vergleich zu vielen anderen Mitgliedern des Lebenskosmos sind wir Menschen nämlich, was manche Wahrnehmungsleistungen und spontane Reaktionsleistungen betrifft, extrem benachteiligt, und das Gehirn muß nach Kompensationsmöglichkeiten suchen, um die Mängel auszugleichen oder sogar ins Gegenteil zu verkehren.

Die Institutionen nun sind diese Kompensationsmotoren und unterliegen genetischen Variationen und leibgeistigen Entwicklungen. Sie sind dem natürlichen Gang der Dinge unterworfen, sie altern und verändern sich auch sonst, je nach räumlichen und historischen Gegebenheiten, genau wie Oswald Spengler es ins Auge gefaßt hatte.

Es kann tiefgreifende Differenzen geben zwischen den verschiedenen Institutionen, auch und nicht zuletzt zwischen den von Ferguson aufgeführten Killer-Apps. Der Faktor Wettbewerb und der Faktor Rechtsstaatlichkeit können sich schwer in die Haare geraten, und so auch der Faktor Wissenschaft und der Faktor Konsum oder der Faktor Medizin und der Faktor Arbeitsmoral.

„Wie kommt es, daß wir im Westen nicht mehr die Vorherrschaft ausüben, die wir einst besaßen?“ fragt sich Ferguson mit bekümmertem Augenaufschlag – und gibt sich selbst zur Antwort: „Die anderen haben angefangen, sich unsere Killerapplikationen herunterzuladen (…) Und gleichzeitig scheinen wir im Westen angefangen zu haben, unsere bewährten Killerapplikationen zu löschen. Das ist eine ernste Sache. Die letztere ist aber wohl die ernstere Entwicklung.“

Ernster? Kann man wirklich noch von ernsthafter Wissenschaft sprechen, wenn ein bekannter westlicher Soziologe das organische Heranreifen beziehungsweise Degenieren von Institutionen und die globale Ausbreitung gewisser institutioneller Praktiken nur noch im Stil infantiler Smartphone-Bedienung formuliert, wenn er nur noch von „Herunterladen“ und „Löschen“ murmelt, obwohl es doch darauf ankäme, zunächst einmal selber nachzudenken und die Prämissen des eigenen Nachdenkens sorgfältig zu prüfen?

Vielleicht käme man dabei auf die Idee, daß schon der eigene Denkansatz gar nicht stimmen kann, besonders wenn man als Imperialismusforscher die westliche Position ausdrücklich stärken und international einigermaßen herrschaftsfähig halten möchte. Wer bei solch diffizilem Geschäft die von ihm selbst bevorzugten Institutionen ungeniert als „Killer-Apps“ verkauft, der darf sich nicht wundern, wenn es schließlich just das Abendland ist, das gelegentlich gekillt wird.

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