© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/13 / 14. Juni 2013

Hermann Lübbe über Plessners „verspätete Nation“
Die Geschichte ist kein Bahnhof
(dg)

Die Rede von der „verspäteten Nation“ ist eng verknüpft mit dem Vorwurf vom „Sonderweg“. Beide Schlagworte bilden ein wichtiges Stück bundesdeutschen Geschichtsbewußtseins. Die griffige Wendung stammt von dem Philosophen und Soziologen Helmuth Plessner (1892–1985), der 1959 der zweiten Auflage seiner Groninger Vorlesungen über das „Schicksal des deutschen Geistes“ (1935) mit „Die verspätete Nation“ einen zugkräftigeren Titel gab. Damit, so urteilt Hermann Lübbe im Essay über „das bekannteste aller Plessner-Bücher“ (Zeitschrift für Ideengeschichte, 2/2013), dürfte er das Werk um die tiefere Wirkung gebracht haben, da mit der scheinbaren Evidenz des Titels der Aufforderungscharakter des Buches, es zu lesen, an Kraft verlor. Ein verhängnisvolles Versäumnis, wie Lübbes nachgeholte „Pflichtlektüre“ zeigt. Denn Plessners Interpretation der deutschen „Modernisierungsresistenz“ wich doch erheblich von „konventionalisierten Standards der Vergangenheitsaufarbeitung“ ab. So würde heute den „europapolitisch erweckten Deutschen“ seine „großdeutsche“ Argumentation genauso mißfallen wie die Hinweise auf das Aufklärungspotential des Katholizismus oder die grundrechtlichen Aspekte „des ‘verdammten Blutrechts’“. Mit Plessner lasse sich daher der „integrale Nationalstaat“ nicht zugunsten der „Vereinigten Staaten von Europa“ diskreditieren.

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