© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/13 / 12. Juli 2013

„Was immer er schrieb, es wirkte unbeholfen"
Literatur: Christoph Hein ringt in seinem Erzählband „Vor der Zeit" mit den Worten – und verliert
Ellen Kositza

Christoph Hein, geboren 1944 in Schlesien, aufgewachsen in Bad Düben bei Leipzig, ist ein preisgekrönter Schriftsteller, Übersetzer, Dramaturg und Dramatiker. Sein neues Buch „Vor der Zeit. Korrekturen" versammelt fünfundzwanzig Erzählungen aus dem Mythenkreis des antiken Griechenland. Dabei, so stellt der Klappentext es vor, entdeckt Hein „Hochspannendes", nämlich, daß kleine Korrekturen an den Überlieferungen aus der Götter- und Titanenwelt zeigen, daß „alles auch ganz anders hätte vonstatten gehen können, Sieger zu Verlierern werden, völlig neue Bedeutungen sich herauskristallisieren".

Heißt: Hein variiert und adaptiert die alten Erzählungen, wie das vor ihm zahlreiche Kollegen getan haben. Als Musterbeispiel, auch weil er wie Hein in der DDR wirkte, könnte man die Mythenrezeption des eine Generation älteren Franz Fühmann nennen.

Christoph Hein nun läßt den heilkundigen Asklepeios durch die Strafe des Hades dement werden. Und der ältere Zeus ist in Wahrheit impotent. Dies sei der Grund, warum Hera die ihr zugetragenen Eroberungsgeschichten des Gatten gelassen hinnimmt.

Hein macht die Nymphe Echo zu jedermanns Liebling auf Erden: Wer dem Beispiel der Echo, der Nachplappernden, folgt, der „erfreut sich der Zuneigung aller Menschen, denn niemandem hört man lieber zu als ihm".

Ja, man liest manches mit einem nickenden Lächeln, eher aber mit einem trägen Schmunzeln. Hein verbirgt nicht die Moral hinter seinen aktualisierten Mythenerzählungen. Sie drängt sich auf. Etwa in der Erzählung „Die Geburt der Demokratie": Dort sorgt Menestheus, „Mitglied eines mächtigen Clans", dafür, daß nur derjenige bestehen kann, der über genügend Geld für den Wahlkampf verfügt. Die Demokraten dieser neuen Generation sind Demagogen, die es lieben, sich selbst Denkmale aufzustellen, die in mächtigen Karossen durch die Städte reisen und mit brennenden Fackeln um sich werfen und dabei „viele Passanten verletzen". Heftigste Winke mit dem Zaunpfahl!

Unbehagen über erotisch gemeinte Stellen

Ähnliche Grobmotorik findet man in der Erzählung von den „Eisernen", jenem Menschengeschlecht, das auf die Goldene, die Silberne und die Bronzene Rasse folgt. Die „Eiserne Rasse", das sind die Herren über die Maschinen. „Die Hast nahm ihnen die Ruhe, sie opferten Schlaf und Familie, um keine Auskunft zu versäumen und verloren schließlich sich selbst." Klar, es ist die so altbekannte wie berechtigte Technik- und Technologiekritik, die Hein seinen Lesern kredenzt – verpackt in schnöde-schmuckloses Altpapier.

Denn, das gilt für sämtliche Erzählungen: Hein fehlen die Worte. Er ringt mit ihnen – er unterliegt. Daß neue Rechtschreibung und alte Mythen per se ein ulkiges Gespann abgeben, ist der geringste Einwand. Hein schreibt bisweilen in antikisierendem Duktus („er war dessen zufrieden"), der sich unfruchtbar mit Modernismen kreuzt („ein entzückendes Tierbaby, das eine jede Frau an ihren Busen zu drücken suchte"; Herakles, der „mit einem Fingerschnipsen" Schädel spaltet).

Bisweilen läßt der Autor Adjektivgewitter herniederregnen. Das ist nicht nur zuviel des Guten (Inflation etwa des Wortes „entsetzt"), sondern oft ungeschickt („ein viel wissender Kräutergärtner"), unpassend („Höhnisch und verächtlich sah er zu …") und überladen („entblößter, splitternackter Unterkörper").

Mit dezentem Unbehagen liest man auch die zahlreichen erotisch gemeinten Stellen. Den Frauen „schmerzten Brüste und Scham", wenn sie dem anziehenden Knaben Phrixos nachschauen, und in einer weiteren Erzählung streicheln sie dieselben „sehnsuchtsvoll", während sie sich „vor Lachen ausschütten" über Bellerophon und seine Angst vor einem Haufen nackter Weiber. Andernorts werden „Hintern" lüstern emporgereckt, „wilde Schreie der Lust" ertönen, es wird „vergewaltigt" – der Autor schätzt es explizit. Hier hackt einer gut abgelagertes Holz zu groben Klötzen, statt feines Besteck daraus zu drechseln.

Ein großartiger Autor hat seinen Zenit überschritten

Vielleicht kann man das harsche Urteil relativieren: Jemand, der von Hein wenig gelesen hat, der etwa allein dessen letzten, halbgelungenen Roman „Weiskerns Nachlaß" (2011) kennt, mag auch diese Erzählungen als wenigstens unterhaltsame Lektüre goutieren.

Wem hingegen Heins frühe Novelle „Der fremde Freund" (1982, außerhalb der DDR als „Drachenblut" publiziert) ins Mark gegangen ist, wen die Endzeitstimmung seines Vorwenderomans „Horns Ende" (1985) erschütterte, wer die Psychogenese des „Bernd Willenbrock" (2005, kongenial verfilmt von Andreas Dresen) atemlos verfolgte und wer wochenlang mit „Frau Paula Trousseau" (2007) lebte und litt – der, der passionierte Hein-Leser also, muß mit einiger Erschütterung, ja „entsetzt" feststellen, daß allem Anschein nach ein großartiger Autor seinen Zenit überschritten hat.

Hein selbst liefert in seinem Stück „Die Bibliotheke des Apollodor" eine selbstkritische, wenn auch letztlich zum Triumph ausholende Poetologie seiner eigenen Schaffenskrise, falls man diese Interpretation wagen mag. Diese – reale – Bibliotheke ist eine Mythensammlung aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert. Ihre Autorschaft ist so umstritten wie ihr Wert. In diesen Schriften wird von der Überlieferung klassischer Dichter abgewichen. Der ominöse Apollodor ergänzt, läßt aus. Bei Hein wird Apollodorus von Zweifeln hinsichtlich seiner Schreibfertigkeit geplagt: „… jedem Versuch einer Richtigstellung fehlte Eleganz und Stil. Was immer er schrieb, es wirkte unbeholfen, es war ihm nicht gemäß und vernichtete die eloquente Geschlossenheit und präzise Grazie der Bibliotheke. Der Text wurde hölzern und taub."

Schon wieder: Einwände! Zeichnet sich Grazie durch Präzision aus, Geschlossenheit durch Eloquenz? Apollodorus widerspricht den Ermutigungen seiner Freunde und Gönner: „Was ich wollte, ich habe es nicht erreicht. Eine einzige unglückliche Zeile zerstört das Ganze." Er bittet darum, ihm zu helfen, die mißlungenen Schriften zu verbrennen, er selbst sei dazu zu „mutlos und feige, ich konnte es nicht, ich kann es nicht. (…) Dieser Text, das bin nicht ich."

Nein, dieses Buch, es ist nicht wirklich von Christoph Hein, diesem einst glänzenden Poeten. Es ist ein Abglanz.

Foto: Jupiter und Juno, Gemälde von Annibale Carracci: Römische Variante von Zeus und Hera

Christoph Hein: Vor der Zeit. Korrekturen.Insel, Berlin 2013, gebunden, 189 Seiten, 19,95 Euro

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