© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/13 / 12. Juli 2013

Staatliche Interventionen bedrohen die Freiheit
Marx auf dem Vormarsch
Robert Grözinger

Viele Menschen glauben heutzutage, sie lebten in einem kapitalistischen System. Das liegt vor allem daran, daß der Kommunismus sowjetischer Prägung bis auf wenige Ausnahmen wie Nordkorea und Kuba untergegangen ist und daher das Gegenteil, also der Kapitalismus, gesiegt haben muß. Wahr daran ist lediglich, daß dasjenige System gesiegt hat, das ein wenig mehr wirtschaftliche Freiheit zugelassen hatte als das andere. Und es hatte gesiegt, weil es mehr wirtschaftliche Freiheit zuließ und deswegen mehr Wohlstand und technischen Fortschritt erzeugen konnte.

Wo immer den in den staatlichen Machtpositionen Befindlichen das marktwirtschaftliche Ergebnis nicht paßt, setzen sie die ihnen zur Verfügung stehenden, den Bürgern per Zwang abgenommenen Mittel ein, um ein ihnen genehmeres Ergebnis herbeizuführen.

Aber: Jetzt, wo es für das übriggebliebene System keinen nennenswerten Konkurrenten im Kampf um Menschen und Territorien mehr gibt, steht einem weiteren Abbau wirtschaftlicher Freiheiten nichts Wirksames mehr im Weg. So überrascht es nicht, daß in den meisten westlichen Gesellschaften die meisten Forderungen, die Karl Marx 1848 im „Kommunistischen Manifest" erhob, bereits größtenteils umgesetzt wurden.

Sie lauteten: „1. Expropriation des Grundeigentums und Verwendung der Grundrente zu Staatsausgaben. 2. Starke Progressivsteuer. 3. Abschaffung des Erbrechts. 4. Konfiskation des Eigentums aller Emigrantenund Rebellen. 5. Zentralisation
des Kredits in den Händen des Staats durch eine Nationalbank mit Staatskapital und ausschließlichem Monopol. 6. Zentralisation des Transportwesens in den Händen des Staats. 7. Vermehrung der Nationalfabriken, Produktionsinstrumente, Urbarmachung und Verbesserung aller Ländereien nach einem gemeinschaftlichen Plan. 8. Gleicher Arbeitszwang für alle, Errichtung industrieller Armeen, besonders für den Ackerbau. 9. Vereinigung des Betriebs von Ackerbau und Industrie, Hinwirken auf die allmähliche Beseitigung des Unterschieds von Stadt und Land. 10. Öffentliche und unentgeltliche Erziehung aller Kinder. Beseitigung der Fabrikarbeit der Kinder in ihrer heutigen Form. Vereinigung der Erziehung mit der materiellen Produktion."

In fast allen westlichen Ländern gibt es eine progressiv ansteigende Einkommensteuer; in allen, nicht nur westlichen Ländern wird das Geldwesen von einer Zentralbank betrieben, die vom jeweiligen Staat oder einem Staatenverbund eine Monopollizenz zum Gelddrucken erhalten hat; steuerfinanzierten Unterrichtszwang gibt es fast überall, in Deutschland sogar Schulzwang.

Die anderen Punkte sind mit Einschränkungen umgesetzt. So ist das Erbrecht zwar nicht abgeschafft, aber Erbschaftsteuern heben die Verfügungsgewalt des Erblassers zum Teil auf. Das Grundeigentum ist immer dann eingeschränkt, wenn der Staat dem Eigentümer Vorschriften über die Verwendung des Eigentums macht oder dieses Eigentum selber „im öffentlichen Interesse" verwendet. Das Transportwesen als Ganzes ist zwar nicht in den Händen des Staates, aber die Straßen und in vielen Ländern auch die Gleise durchaus und in jedem Fall staatlich streng reguliert.

In allen Ländern greift der Staat – in unterschiedlichem Maß – entweder mit Besteuerungen, Subventionen, Förderprogrammen oder Regulierungen oder mit allem zusammen in das Wirtschaftsgeschehen ein. Arbeitszwang als solcher ist eher selten anzutreffen, doch es herrscht durchaus der Trend vor, möglichst alle Erwachsenen in das Berufsleben zu zwingen – durch Steuern, die private Rücklagen erschweren oder unmöglich machen und die dazu führen, daß das Einkommen einer Person nicht ausreicht, um eine Familie zu ernähren; durch Verschwendung öffentlicher Gelder, so daß für die staatliche Rente nur noch ein kümmerlicher Rest übrigbleibt. In Deutschland wie auch in der EU gibt es mit dem Länderfinanzausgleich und den Regionalfonds staatliche Bestrebungen, „gleiche Lebensverhältnisse" herzustellen. Kein Zweifel: Trotz des Zusammenbruchs des Kommunismus in Osteuropa und der Sowjetunion weist die Grundtendenz der Zeit immer noch in Richtung Kommunismus.

Spitzenbankier Josef Ackermann verlor kurz vor Beginn der Finanzkrise angeblich den „Glauben an die Selbstheilungskräfte des Marktes", wie Der Spiegel und Die Welt im März 2008 übereinstimmend schrieben. Betrachtet man die entsprechenden Artikel genauer, erkennt man etwas anderes: Ackermann hat den Glauben an die Selbstheilungskräfte des Marktes nicht verloren. Er konnte ihn gar nicht verlieren, weil er ihn nie gehabt hat. „Die Versorgung mit Liquidität reiche als Maßnahme nicht aus", wird Ackermann vom Spiegel zitiert. Daß der ehemalige Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank so etwas wie die „Versorgung des Marktes mit Liquidität" für gut befindet, zeigt, daß er von wirklicher Marktwirtschaft, zumindest in seiner Branche, nie etwas wissen wollte, denn „Versorgung mit Liquidität" bedeutet nichts anderes als eine Verzerrung des Geldmarktes mit Hilfe von Mitteln der Zentralbank.

Gerade Bankiers leben von der engen, ja engsten Verknüpfung mit dem Staat. Sie sind es, die die Staatschuldverschreibungen profitabel unter das Volk verteilen. Sie sind es, die hohe Risiken im Wissen eingehen, daß nicht sie, sondern die Steuerzahler die Verluste tragen werden, da der Staat es sich nicht leisten kann, seine Geldbeschaffungsagenturen scheitern zu lassen. Ackermann ist ein typischer Vertreter nicht des Kapitalismus, sondern des sogenannten „Korporatismus", jener Vermählung zwischen Staat und Wirtschaft, mit der ein wirkliches freies Spiel der Kräfte weitgehend ausgeschaltet worden ist.

Kapitalismus ist etwas anderes. Er ist „ein auf Privateigentum an Produktionsmitteln basierendes Gesellschaftssystem. Sein Kennzeichen ist das Verfolgen materieller Eigeninteressen in Freiheit, und es steht auf dem Fundament des kulturellen Einflusses der Vernunft. Auf seiner Grundlage und seiner wesentlichen Eigenschaft fußend, sind weitere Kennzeichen des Kapitalismus das Sparen und die Kapitalansammlung, Austausch und Geld, finanzielles Eigeninteresse und das Gewinnstreben, die Freiheiten des wirtschaftlichen Wettbewerbs und der wirtschaftlichen Ungleichheit, das Preissystem, wirtschaftlicher Fortschritt und eine Harmonie der materiellen Eigeninteressen aller an ihm beteiligten Individuen" (George Reisman, „Capitalism", 1998).

Keiner kann ernsthaft behaupten, daß die Welt gegenwärtig von einem System geprägt ist, in dem eine „Harmonie der materiellen Eigeninteressen aller an ihm beteiligten Individuen" herrscht. Seit 1914 hat die Welt eine ungebrochene Folge von Kriegen und Wirtschaftskrisen gesehen. Selbst in der langen Aufschwungsphase von 1982 bis 2008 gab es immer wieder Streiks, Handelskriege, Umweltkatastrophen, Stellvertreterkriege, Krieg um Ressourcen und Hungersnöte. Irgend etwas kann also nicht stimmen: entweder die oben zitierte Definition des Ökonomen George Reisman oder die Bezeichnung des modernen Wirtschaftssystems als Kapitalismus.

Betrachtet man die Welt mit offenen Augen, so stellt man fest, daß an zahllosen Stellen die „Freiheiten des wirtschaftlichen Wettbewerbs und der wirtschaftlichen Ungleichheit" eingeschränkt werden, und zwar durch die Staaten – die ihrer Natur gemäß für sich das Monopol der Gewaltausübung auf ihrem Territorium beanspruchen. Staatliche Gewalt kann man auch so beschreiben: Wo immer den in den staatlichen oder staatsnahen Machtpositionen Befindlichen das festgestellte oder vorausgesehene marktwirtschaftliche Ergebnis nicht paßt, setzen sie die ihnen zur Verfügung stehenden, den staatsferneren Bürgern per Zwang abgenommenen Mittel ein, um ein ihnen genehmeres Ergebnis herbeizuführen. Nebenwirkungen werden in Kauf genommen, da die Machthaber diese in der Regel nicht zu tragen haben. Wo immer man sich also in der politischen Arena disharmonisch streitet oder sogar bekriegt, wo sich dauerhafte Hungersnöte oder eine Übernutzung der Natur ereignen, kann man, wenn man genau hinschaut, an der Wurzel des Problems eine vorausgegangene Einschränkung der wirtschaftlichen Freiheit oder die Verletzung des Privateigentumsprinzips finden.

Man kann ein System nicht kapitalistisch nennen, wenn sein Geld zentralplanerisch verwaltet wird. Genau das aber machen unsere Zentralbanken, jene staatlich geschützten Monopole der Geldproduktion, und zwar ohne Ausnahme weltweit.

Eine besondere Rolle fällt hier der Geldproduktion zu. Welche Folgen hat der Eingriff des Staates in die für das Funktionieren einer freien Marktwirtschaft unverzichtbare Geldproduktion? Man kann ein System nicht kapitalistisch nennen, wenn sein Geld, der „besondere Saft" eines jeden Wirtschaftssystems, zentralplanerisch verwaltet wird. Genau das aber tun unsere Zentralbanken, jene staatlich geschützten Monopole der Geldproduktion, und zwar ohne Ausnahme weltweit. Unser zentralplanerisches Bankensystem bricht aufgrund seiner permanenten Inflationierung der Geldmenge das biblische Gebot der Einhaltung wahrer Maßstäbe. „Ihr sollt keine Verdrehung beim Rechtsprechen, bei Längenmaß, Gewicht und Gefäß machen! Richtige Waage, richtige Gewichtsteine, richtiger Scheffel und richtige Kanne sollen bei euch sein" (Levitikus 19, 35–36, siehe auch Deuteronomium 25, 13–16 und Sprüche 20, 10, 23). Der amerikanische Ökonom Gary North hat das Alte und Neue Testament aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht durchforstet und ist zur Schlußfolgerung gelangt, daß die gesamte Bibel ein „anti-sozialistisches Dokument" ist.

Die weltweite Nichteinhaltung des Gebots der Maßstabseinhaltung in der Geldpolitik führt zu ungerechten und extremen Einkommens- und Vermögensunterschieden, die jedes Maß einer im echten Kapitalismus zu erwartenden Verteilung persönlichen Reichtums übersteigen. Sie führt zu irrsinnigen Konjunkturauf- und -abschwüngen, die Verzerrungen in der natürlichen Wirtschaftsstruktur auslösen. Weil Inflation Ersparnisse zunichte macht, führt sie außerdem zur Überbewertung des kurzfristigen und zur Unterbewertung des langfristigen Denkens und Planens.

Wer also heutzutage „den Kapitalismus" und seine angeblichen Ungerechtigkeiten kritisiert, ihn für die offenkundigen Verzerrungen in unserer Gesellschaft verantwortlich macht, sollte überprüfen, ob er nicht in Wirklichkeit, vielleicht bislang unbewußt, die Auswirkungen unserer zentralplanerisch (also antikapitalistisch) verwalteten Geldproduktion kritisiert. Ganz abgesehen von den Folgen übermäßiger Besteuerung und Regulierung, die für ein kapitalistisches System ebenfalls Gift und gleichfalls nicht von der Bibel gedeckt sind. Auch nicht vom Neuen Testament, wo Gott oftmals als wohlhabender Kapitalist symbolisiert wird, wo der Teufel alle Macht des Staates anbietet und wo Wohltätigkeit im Sinne Jesu ausschließlich freiwillig ist.

 

Robert Grözinger, Jahrgang 1965, studierte Wirtschaft in Braunschweig und Hannover. Der Diplom-Ökonom arbeitet in England als Lehrer für Wirtschaftswissenschaften, freier Journalist (u.a. für Eigentümlich frei) und Übersetzer.

 

Robert Grözinger: Jesus, der Kapitalist. Das christliche Herz der Marktwirtschaft, FinanzBuch Verlag, München, 2012. Bei nebenstehendem Text handelt es sich um einen freundlich genehmigten, adaptierten Nachdruck aus der Einleitung des Buches.

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