© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/13 / 12. Juli 2013

Die gefährliche Lust an extremen Gefühlen
Ungleichgewichte in der Hirnentwicklung diktieren jugendliche Verhaltensmuster / Risikobereitschaft genetisch bedingt?
Christoph Keller

Junge Menschen sollen sich ab dem Alter von zwölf Jahren von ihren Eltern ablösen, eigene Freundeskreise aufbauen, ihre Geschlechterrolle annehmen, Veränderungen ihres Körpers akzeptieren, eine stabile Weltanschauung entwickeln, Zukunftsperspektiven entwerfen. Mediziner und Anthropologen nennen diesen Übergang von der Kindheit zum Erwachsenenalter Adoleszenz.

Bei vier Fünftel der Heranwachsenden verlaufen die somatischen und psychischen Veränderungen in dieser Zeit nach Plan. Für die übrigen ist die Erziehung zu „nützlichen Gliedern der Gesellschaft" mit Hindernissen gesäumt. „Krisen und psychische Störungen" werfen viele aus der Bahn, die die biologisch determinierten Entwicklungsschritte nicht mittun können.

Die pädagogisch viel strapazierten Einflüsse des „Milieus" setzen hierfür allenfalls hinreichende, aber keine notwendigen Bedingungen. Entscheidend ist vielmehr, daß das menschliche Gehirn, wie zuerst eine New Yorker Arbeitsgruppe von Neurologen und Psychologen nachgewiesen hat, während der Adoleszenz nochmals eine Phase der Reorganisation durchläuft, die sich durch große Plastizität auszeichnet. Im Deutschen Ärzteblatt (25/13) versucht die Neuropsychologin Kerstin Konrad (RWTH Aachen) mit Marburger Kollegen dieses neue Verständnis des jugendlichen Reifeprozesses zu erläutern.

In der Jugend dominiert das Gefühl den Verstand

Die gesellschaftspolitischen Konsequenzen werden auch angedeutet – etwa in der naheliegenden Revision der starren Altersgrenze zwischen Jugend- und allgemeinem Strafrecht, in der Kontroverse über die Legalisierung des Cannabiskonsums oder in der Diskussion über Suchtprävention. Den Ausgangspunkt für alle Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens sehen Forscher im Ungleichgewicht zwischen den reiferen subkortikalen und den später entwickelten präfrontalen Hirnarealen. Verkürzt ausgedrückt dominiert in der Jugend das Gefühl den Verstand. In emotionalen Situationen gewinne das weiter gereifte, unterhalb der Großhirnrinde angesiedelte limbische System und das Gefühlsentscheidungen begünstigende „Belohnungssystem" über die sich erst ausformenden präfrontalen Hirnreale des rationalen Kontrollsystems die Oberhand. Die neuronalen Verschaltungen in der präfrontalen Hirnrinde, die zu rationalem Denken befähigen, zur Introspektion und zur Orientierung an festen Werten, würden nach dem zwölften Geburtstag erst langsam ausgebildet.Die das Gefühlsleben konditionierenden Strukturen seien aber bereits ausgereift.

Auswirkungen dieser hirnphysiologisch bedingten, primär emotionalen Verhaltenssteuerung seien an den Kriminalitäts- und Unfallstatistiken abzulesen. Viele Jugendliche und junge Erwachsene unterwerfen sich der „Lust an extremen Gefühlen". Ihre erhöhte, ursprünglich evolutionär sinnvolle – weil die Ablösung von der Familie erleichternde Risikobereitschaft – habe dazu geführt, daß Unfälle, Gewalt und Selbstverletzungen zu den häufigsten Todesursachen bei Jugendlichen zählen. Die Einsicht in die differierenden Reifungsgeschwindigkeiten verschiedener Hirnregionen während der Adoleszenz gehört zu den jüngsten grundlegenden Erkenntnissen der modernen Neurowissenschaften.

Ein biologischer Determinismus ist daraus aber nicht abzuleiten. Denn gerade die Formbarkeit des jugendlichen Hirns in seiner Reorganisationsphase eröffnet Chancen für Bildung und Erziehung. Etwa für Präventionsprogramme, die weniger auf rationale Aufklärung über riskantes Verhalten setzen, sondern das Gefühl ansprechen, indem sie dem egoistischen Nutzen schmeicheln und soziale Kompetenz trainieren.

Ob bei dieser Einübung in nichtriskante Verhaltensweisen positive TV-Vorbilder wie der von Kerstin Konrad empfohlene „coole Star aus der Fernseh-Soap" hilfreich sein können, der sich gegen den „Rauschtrinkwettbewerb" entscheide, darf allerdings bezweifelt werden. Immerhin vermittelt Beate Herpertz-Dahlmann (Uniklinikum Aachen) für die Mehrheit der deutschen Jugend optimistische Perspektiven: deren Tabak- und Alkoholkonsum sei seit Jahren rückläufig. Drei Viertel bekundeten in der Shell-Jugendstudie 2010 „eine hohe Zufriedenheit mit ihrem Leben".

Studie „Hirnentwicklung in der Adoleszenz: www.aerzteblatt.de/pdf/110/25/m425.pdf

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