© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30-31/13 19. Juli / 26. Juli 2013

Das Gift der Stasi
Abhöraffäre: Die NSA-Debatte rückt die Hinterlassenschaften des Staatssicherheitsdienstes der DDR wieder in den Blick
Ekkehard Schultz

Seitdem nahezu täglich neue Details über den Umfang der Spionage des amerikanischen Geheimdienstes NSA bekannt werden, wird nicht nur in Deutschland intensiv über die Frage diskutiert, wieviel ein Staat von seinen Bürgern wissen darf. Dabei ziehen Politiker und Medien immer wieder Vergleiche mit dem früheren Staatssicherheitsdienst der DDR (MfS).

So behauptete etwa die Piratenpolitikerin Anke Domscheit-Berg im ZDF, daß die NSA mit ihren Überwachungs- praktiken „schlimmer als die Stasi“ agiere. Für den Donaukurier verblassen vor dem Umfang dieser Informationssammlungen sogar „Stasi-Methoden und orwellsche Horrorfiktionen“. Und für die Lausitzer Rundschau steht der amerikanische Geheimdienst inzwischen unmittelbar in dieser Traditionslinie: „Das Gift der Stasi hat schon die DDR-Gesellschaft zerfressen. Die US-Geheimdienste sind drauf und dran, mit ihrem ebenso entfesselten Überwachungswahn die Freundschaft zu Europa und speziell zu Deutschland kaputtzumachen.“

Allerdings blieben diese Vergleiche nicht ohne Widerspruch. In der Internetausgabe des Magazins Cicero bezeichnete Malte Lehming den Stasi-Vergleich als klare „Verharmlosung der SED-Diktatur“ und verwies auf den unterschiedlichen historischen wie gesellschaftlichen Kontext. Um so bemerkenswerter ist es, daß auch der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des MfS, Roland Jahn, ähnlich argumentiert. So verwies Jahn auf die Gefahr, daß auch in einem demokratischen Staat größere Datensammlungen „Begehrlichkeiten wecken“ könnten. Deswegen brauche es „einen offenen Dialog und klare internationale Regeln zum Schutz der Bürger“, sagte er der Mitteldeutschen Zeitung. Generell müßten „die Spielregeln im Umgang mit solchen personenbezogenen Informationen stetig wachsam neu gestaltet werden“, forderte Jahn.

Gerade dieses Spannungsverhältnis zwischen dem Recht auf eine persönliche Einsichtnahme, den gesetzlich verankerten Kontrollmechanismen und dem legitimen Schutzbedürfnis von Dritten hat bis heute auch die Geschichte der Unterlagenbehörde in einem hohen Maße geprägt. Schon die Gründung der Behörde im Oktober 1990 war etwas Außergewöhnliches, da sie auf dem Beschluß der letzten und einzig frei gewählten Volkskammer der DDR beruhte und sich die Bundesrepublik nach der Wiedervereinigung lange Zeit damit schwertat, eine entsprechende Regelung zu formulieren. Erst nach längeren Debatten trat am 29. Dezember 1991 das erste Stasi-Unterlagengesetz in Kraft, in dem die grundsätzlichen Eckpunkte der Arbeit der Behörde festgelegt wurden.

Auch noch Jahre später kam es bei der Begründung der konkreten Regularien immer wieder zu lebhaften parlamentarischen Auseinandersetzungen. Sie haben dazu geführt, daß das Unterlagengesetz mittlerweile in der achten Fassung existiert. Gerade die aktuelle Neufassung, die zum größten Teil auf dem Willen Jahns beruht, stieß auf Kritik. Mit dieser Regelung sollte die Versetzung von rund 50 ehemaligen MfS-Mitarbeitern, die bis heute in der Behörde tätig sind, erleichtert werden. Zudem wurden die Möglichkeiten ausgeweitet, Personen im öffentlichen Dienst mit Hilfe der Akten auf eine frühere Spionagetätigkeit zu prüfen.

Dabei ist schon allein die Tatsache, daß die Unterlagenbehörde in ihrer klassischen Form überhaupt noch existiert, keineswegs eine Selbstverständlichkeit. So sieht die Nachfolgeorganisation der einstigen DDR-Staatspartei in den derzeitigen Regelungen eine generelle Benachteiligung von ehemaligen Bewohnern der mitteldeutschen Länder, da sie Kontrollmöglichkeiten schaffe, die für den größten Teil der Westdeutschen nicht bestünden. Aber auch die SPD forderte in den vergangenen Jahren immer wieder dazu auf, die Verantwortung für die Aktenbestände zukünftig in andere Hände zu legen und ein Ende der Arbeit der Behörde festzulegen. Eine Weiterführung der Tätigkeit auf eine längere Sicht sei „weder vorgesehen noch notwendig“, so Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse.

Demgegenüber hat Jahn seit dem Beginn seiner Tätigkeit im März 2011 regelmäßig auf das große Interesse verwiesen, das auch heute noch an den Angeboten der Behörde bestünde. Dabei geben ihm die Zahlen recht. Im Jahr 2012 wurden insgesamt 88.231 Erst- und Wiederholungsanträge auf Akteneinsicht gestellt. Dies sind gut 7.500 Anträge mehr als im Vorjahr. Auch die journalistische und wissenschaftliche Nachfrage ist ungebrochen. Mit 1.430 Anfragen lag sie 2012 nur gering unter den Vorjahreswerten, und dies ungeachtet der Tatsache, daß die Zeit der besonders spektakulären Enthüllungen längst vorbei ist. Zudem wurden 2012 immerhin noch 5.547 Anträge zu Fragen der Rehabilitierung, Wiedergutmachung sowie zur Strafverfolgung gestellt, davon 1.324 Ersuchen zur Opferrente.

Deutliche Kritik gibt es allerdings an den langen Bearbeitungszeiten der Unterlagenbehörde. Teilweise sind bis zu zweieinhalb Jahre bis zur persönlichen Einsicht in die Akten erforderlich. Die Ursache: Immer weniger Mitarbeiter kümmern sich um die Akten. Beschäftigte die Behörde Mitte der neunziger Jahre runfd 3.200 Mitarbeiter, waren es Ende 2012 als Folge schwarz-gelber Sparvorgaben nur noch 1.589 Mitarbeiter.

Auch die Frage, was mit den MfS-Akten in Zukunft geschehen soll, sorgt bis heute immer wieder für Debatten. Der Leiter der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, Hubertus Knabe, will die Bestände in das Bundesarchiv überführen. Er verbindet damit die Hoffnung, daß dort sowohl eine professionellere als auch schnellere Archivierung der Akten erfolgen könnte und damit wiederum die wissenschaftliche Aufarbeitung erleichtert würde. Dagegen verweist Jahn ebenso wie seine Vorgängerin Marianne Birthler auf den Vorteil der dezentralen Strukturen, die für die Masse der Antragsteller – die Opfer der Diktatur und deren unmittelbare Nachfahren – von Vorteil seien. So ist eine Einsichtnahme nicht nur in Berlin, sondern auch in den ehemaligen MfS-Außenstellen möglich.

Foto: Behördenchef Roland Jahn mit Stasi-Akten: Ab ins Bundesarchiv?

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen